

Zeitenwende für die G7
Noch ist nicht einmal das erste Halbjahr vergangen, aber das Wort des Jahres scheint bereits festzustehen: Zeitenwende. Denn der Begriff, den Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Rede am 27. Februar im Bundestag benutzte, um die Bedeutung des russischen Angriffskriegs zu beschreiben, prägt seitdem die deutsche Debatte. Für die Deutschen war Putins Angriffskrieg ein größerer Schock als für viele andere Länder. Schließlich hatte sich unser Land doch besonders gut in den vermeintlichen außenpolitischen Gewissheiten der Zeit nach dem Mauerfall eingerichtet, zu den nicht zuletzt die Annahme gehörten, dass ein zwischenstaatlicher Krieg in Europa ein Phänomen der Vergangenheit sei.
Wie Daten aus dem neuen Münchner Sicherheitsindex – einem gemeinsamen Projekt der Münchner Sicherheitskonferenz und Kekst CNC – zeigen, sind mehr als zwei Drittel der Deutschen der Meinung, dass die Invasion einen Wendepunkt für die Außen- und Sicherheitspolitik Deutschlands bedeutet. Aber auch wenn die Zustimmung in Deutschland im Vergleich zu den anderen G7-Staaten am höchsten ist, empfinden absolute Mehrheiten der Bevölkerungen in allen G7-Staaten, mit Ausnahme Kanadas, den Angriff gegen die Ukraine als Wendepunkt für die Außen- und Sicherheitspolitik ihres Landes. Als Zeitenwende für die Weltpolitik insgesamt sehen ihn sogar zwischen 60 und 70 Prozent der Befragten in allen sieben Ländern.
Einschätzung von BürgerInnen der G7-Staaten: Stellt die Invasion der Ukraine durch Russland eine Zeitenwende für die Sicherheitspolitik des eigenen Landes dar?
Russland steht nun in sechs der G7-Länder an der Spitze der Risikoliste
Aber welche Risiken sehen die Bevölkerungen in den G7-Staaten nach dieser Zeitenwende, nach der, wie Scholz sagte, die Welt „nicht mehr dieselbe wie die Welt davor“ ist? Der Krieg in der Ukraine hat die Risikowahrnehmung der Bevölkerungen in den G7-Staaten in der Tat deutlich verändert. Zu den in den letzten Ausgaben des Index dominierenden Risiken, die vor allem mit dem Klimawandel zusammenhängen, sind erneut klassische Sicherheitsrisiken getreten. Russland ist nun in allen G7-Ländern außer Italien an der Spitze der Risikoliste. Die Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen, ob nuklear, chemisch oder biologisch, wird ebenfalls mit deutlich größerer Besorgnis gesehen als noch vor einigen Monaten. Die Bevölkerungen in den G7-Staaten gehen nicht davon aus, dass diese Veränderungen von kurzer Dauer sein werden. Wie unsere Daten zeigen, sind Mehrheiten nicht nur der Meinung, man stehe am Beginn eines neuen Kalten Kriegs mit Russland. Sie geben auch an, dass die chinesische Reaktion auf den Angriffskrieg sie habe skeptischer gegenüber Chinas eigenen Ambitionen werden lassen, und sind der Meinung, dass das Risiko steige, dass China ebenfalls ein Land angreife, wenn man Russland nicht entschlossen entgegenträte.
Russland wird in sechs der sieben G7-Länder als größtes Sicherheitsrisiko angesehen.
Die G7-Staaten sehen sich untereinander deutlich positiver
Wie die BürgerInnen der G7-Staaten die Reaktion von verschiedenen Staaten und Organisationen auf die russische Invasion bewerten.
Während die Bevölkerungen in den G7-Staaten nun also deutlich skeptischer auf Russland und China blicken, sehen sie sich untereinander deutlich positiver. Dies entspricht der politischen Entwicklung, dass auch dem G7-Format und der engen Kooperation westlicher Demokratien im Allgemeinen neues Leben eingehaucht wurde. Mit der Verhängung harter Sanktionen gegen Russland und umfangreichen Unterstützungsleistungen für die Ukraine haben die G7 und ihre Partner entschieden gehandelt. Zumindest bewerten die Befragten sowohl die Antwort des eigenen Landes auf die russische Invasion als auch jene der anderen G7-Länder ganz klar positiv. Lediglich Italien fällt hier mit überwiegend kritischen Bewertungen aus der Reihe. Selbst Deutschlands Antwort auf Russlands Krieg – im europäischen Elitendiskurs häufig als deutlich zu zögerlich bewertet – wird in den Gesellschaften der G7-Staaten insgesamt positiv gesehen. Auch in Deutschland selbst überwiegen jene, die die Krisenreaktion ihres Landes positiv bewerten – obgleich auffällt, dass die deutschen Befragten über die Reaktionen der anderen G7-Staaten deutlich besser urteilen als über die ihres eigenen Landes.
Gleichwohl zeigt sich dieser Tage auch, dass die Ge- und Entschlossenheit im Angesicht der Zeitenwende durchaus kein Selbstläufer ist. Je länger der Krieg andauert und je deutlicher die Kosten einer entschiedenen Antwort darauf spürbar werden, desto mehr Einsatz verlangt es von gleichgesinnten Demokratien, ihre Einigkeit und Entschlossenheit zu wahren. Trotz der großen Unterstützung innerhalb der G7-Staaten für die Russland- und Ukrainepolitik ihrer jeweiligen Länder sind Unterschiede deutlich sichtbar, die Nährboden für künftige Differenzen sein könnten. Obgleich mit Ausnahme von Italien in allen G7-Staaten jene Befragten überwiegen, die wollen, dass ihr Land mehr für die Ukraine tut – sei es mit Blick auf die Lieferung von (schweren) Waffen oder die Erhöhung der eigenen Verteidigungsausgaben –, so variiert der Umfang dieses Wunsches doch deutlich. Und obwohl auch in Deutschland mehr Befragte einen größeren Einsatz für die Ukraine fordern als sich einen geringeren Einsatz wünschen, zeigen sich die Befragten in Deutschland doch deutlich zurückhaltender als jene in den Partnerländern. Gleichwohl können sich die Deutschen durchaus vorstellen, ihre Präsenz an der Ostflanke der NATO deutlich zu erhöhen und auch einer NATO- und EU-Mitgliedschaft der Ukraine stehen sie positiv gegenüber. Eine relative Mehrheit, 44 Prozent, der Deutschen ist gar der Meinung, dass die NATO Russland stärker entgegentreten sollte, selbst wenn dadurch das Risiko einer militärischen Eskalation zwischen der NATO und Russland steige.
Alle anderen Bedrohungen haben nichts an Relevanz eingebüßt
Doch den revisionistischen autoritären Großmächten gemeinsam entgegenzutreten bleibt nicht die einzige Herausforderung der Zeitenwende. All die anderen Bedrohungen, die ursprünglich die Agenda der deutschen Ratspräsidentschaft prägen sollten, haben auch aus Sicht der G7-Bevölkerungen nichts an Relevanz eingebüßt. Manche Herausforderungen – man denke nur an die Energiewende – hat der russische Angriffskrieg in ihrer Dringlichkeit noch verstärkt. Die G7-Staaten müssen deshalb ihre Antwort auf den russischen Angriffskrieg mit Maßnahmen in Einklang bringen, die auch die vielen anderen wichtigen nicht-traditionellen Sicherheitsrisiken erfolgreich einzudämmen helfen. Wenn es aber um den Umgang mit Klimawandel, Pandemien oder wachsender Ungleichheit geht, sind Einigkeit und Einsatz innerhalb der G7 noch deutlich schwächer ausgeprägt als im Angesicht des Kriegs in Osteuropa.
Das ist die schlechte Nachricht: In der neuen Welt nach der Zeitenwende werden die G7 und ihre Partner deutlich mehr tun müssen, um sich erfolgreich um beides kümmern zu können: um die Abwehr traditioneller Bedrohungen durch revisionistische autoritäre Großmächte und um die Bekämpfung globaler Risiken wie dem Klimawandel, für die globale Zusammenarbeit erforderlich ist. Unter Bedingungen zunehmenden Systemwettbewerbs ist das alles andere als eine leichte Aufgabe. Da ist es eine gute Nachricht, dass die Bevölkerungen in den wichtigsten demokratischen Industrieländern die Zeitenwende bereits grundsätzlich verinnerlicht haben und der engen Kooperation zwischen ihren Regierungen sehr positiv gegenüberstehen. Für die Bewältigung der riesigen Herausforderungen ist dies zwar keine hinreichende, aber zumindest eine notwendige Bedingung.
Über die AutorInnen
Dr. Tobias Bunde ist Director of Research & Policy, Dr. Sophie Eisentraut ist Head of Research der Münchner Sicherheitskonferenz. Am 21. Juni erschien ihr Munich Security Brief "Zeitenwende for the G7" mit einer Sonderausgabe des Munich Security Index zum G7-Gipfel, den Sie hier in voller Länge finden.