Dr. Julian Voje

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Afghanistan: Geopolitischer Hotspot

„[T]here exist in the world certain places that have for mankind a strange and fatal existence, in that they give directions to his conquests. In these places victories are decisive and defeats mark the consummation of national ruin. These places are the doorways through which nations come and go; sometimes arches of triumph; sometimes those narrow exits through which nations, like men, pass to return no more. Herat is one of these places, Kabul another.“ (Homer Lea, 1876-1912)

Durch die Jahrhunderte haftete Afghanistan der Ruf eines „Graveyard of Empires“ an. [1] Das Zitat Homer Leas, Mitbegründer der amerikanischen Geopolitik, bezieht sich auf die Niederlagen Alexander des Großen und Großbritanniens, deren jeweilige Expansionspläne am Hindukusch scheiterten. Diese Reihe lässt sich mit der Sowjetunion fortsetzen. Auch sie musste trotz immensen Aufwands geschlagen aus Afghanistan abziehen. Es wundert daher nicht, dass die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan nicht nur direkte Auswirkungen auf die Menschen vor Ort hat. Vielmehr ist die politische Schockwirkung ihres raschen militärischen Sieges weltweit zu spüren.

So sieht Wolfgang Ischinger, Vorsitzender der MSC, in den Entwicklungen in Afghanistan einen „Lackmustest für die Fähigkeit der gesamten internationalen Gemeinschaft, Konflikte zu regeln“ und stellt fest, dass sich am Hindukusch „geostrategisch die aktuelle Schwäche des Westens manifestiert.“ [2]

Auch Elmar Brok, Senior Advisor der Münchner Sicherheitskonferenz, sieht direkte Auswirkungen für westliche Staaten:

„Das amerikanische Jahrhundert ist zu Ende und damit auch die prägende Kraft des Westens in Politik, Sicherheit und Wirtschaft sowie der Werte und Grundrechte der Charta der UNO, wenn es nicht gelingt, aus dem Desaster von Kabul – aber auch Bagdad, Damaskus und Beirut – glaubwürdige und schnelle Konsequenzen zu ziehen.“ [3]

Der Fall Kabuls stellt allerdings nicht nur die internationale Durchsetzungsfähigkeit und Standfestigkeit des Westens in Frage. Er verändert auch das Mächtegleichgewicht in einer geopolitisch hoch volatilen Region, die aufgrund ihrer besonderen Lage auch zukünftig die außenpolitische Agenda westlicher Staaten bestimmt.

Zwischen geostrategischer Bedeutungslosigkeit und weltpolitischem Brennpunkt

Um zu verstehen, in welcher Lage sich das Land aktuell befindet, lohnt sich ein Blick zurück in die Geschichte. Denn historisch betrachtet nahm Afghanistan – wie eingangs bereits angedeutet – immer eine besondere Rolle ein. Dabei wechselte das Land am Hindukusch zwischen geostrategischer Bedeutungslosigkeit und der Rolle eines weltpolitischen Brennpunktes. Bedingt durch seine geografische Lage zwischen dem iranischen Plateau und dem Himalaya-Gebirge wurde es durch die Jahrhunderte zur Nahtstelle verschiedener Großreiche, die das Land selbst nicht dauerhaft einnehmen konnten. Denn die zerklüftete Region mit dezentral verteilten Machtbasen verschiedener Clans war – und wie sich immer wieder zeigt: ist – nur sehr schwer zentral regierbar.

In der neuesten Geschichte rückte Afghanistan in den 1980er-Jahren zu Zeiten des Kalten Krieges in den Mittelpunkt geostrategischer Planungen der USA, nach dem Abzug sowjetischer Truppen aus dem Land büßte es dann seine besondere Stellung ein. Die von den USA unterstützten Mudschahedin hatten ihre Aufgabe erfüllt. Allerdings sollte sich die abrupte Abkehr von dem bürgerkriegszerrütteten Land in den 1990er-Jahren im Rückblick als ein Fehler erweisen. Auf diese Weise konnten die Taliban (die sich anfangs als Ordnungsmacht gerierten) und mit ihnen Osama bin Laden am Hindukusch Fuß fassen.

Auch nach dem Sturz der Taliban 2001 erwies sich die nicht vorhandene Strategie für einen Umgang mit dem Land als größtes Hindernis. Die von den USA geführte Mission, die ursprünglich nur der Bekämpfung Al-Qaidas galt und den Sturz des Taliban-Regimes als Zwischenziel verfolgte, entwickelte sich peu à peu zu einem groß angelegten Nation-Building. [4]

An der geostrategischen Nahtstelle verschiedener Einflusssphären

Nun, 20 Jahre später, steht nicht nur in Frage, was von den Bemühungen, das Land zu stabilisieren, am Ende übrig bleibt. Es zeigt sich auch, dass sich das militärische Machtvakuum am Hindukusch schnell füllt. Denn Afghanistan liegt weiterhin an der geostrategischen Nahtstelle verschiedener Einflusssphären, deren interne Konflikte und machtpolitische Rivalitäten sich auf das Nachbarland am Hindukusch auswirken werden. Erste Annäherungen Chinas an das Taliban-Regime haben bereits deutlich gemacht, dass die veränderte Machtverteilung am Hindukusch Begehrlichkeiten weckt. [5] Dabei ist anders als in den 90er-Jahren dem Regime in Kabul an internationaler Anerkennung gelegen. [6] Zusätzlich hat sich das internationale Umfeld geändert.

Als Anrainer sind vor allem relevant: im Westen der Iran, im Südosten Pakistan, das eine besonders enge Beziehung zu seinem Nachbarn als „strategischen Rückzugsraum“ gegenüber Indien hält, im Norden die zentralasiatischen Staaten, wobei drei der fünf zentralasiatischen Länder eine Grenze mit Afghanistan teilen, sowie China, das durch einen knapp 350 Kilometer langen Grenzkorridor mit seinem Nachbarn verbunden ist. Russland, das keine direkte Grenze zu Afghanistan hat, versucht zusätzlich, Einfluss in der Region auszuüben.

Alle genannten Staaten sind dabei in einem Dilemma gefangen: Einerseits ist ihnen an einem stabilen afghanischen Staat gelegen, der weder Islamisten eine Plattform bietet, noch durch einen anhaltenden Bürgerkrieg einen Unruheherd darstellt und zu Flüchtlingsbewegungen führt. Zusätzlich bietet Afghanistan lukrative Rohstoffvorkommen (u.a. Kupfer und Lithium). Andererseits wollen sie Einfluss auf das Land ausüben und ihnen nahestehende Gruppen unterstützen, unterminieren damit aber die Stabilität des Landes.

Dreifache Wirkung der Machtübernahme durch die Taliban

Der Fall Kabuls und die Machtübernahme der Taliban haben somit eine dreifache Wirkung:

Sie setzt erstens einen Schlussstrich unter die zwanzig Jahre währenden Bemühungen des Nation-Building in Afghanistan. Wie nachhaltig sie waren, wird sich noch zeigen. Zwar hat der Sieg der Taliban die Regierung in einer unvorhersehbaren Geschwindigkeit gestürzt. Es ist allerdings noch unklar, wie und ob sich die afghanische Bevölkerung dem islamistischen Regime in den nächsten Monaten fügen wird.

Zweitens wird sich zeigen müssen, welche Auswirkungen sich daraus für außenpolitische Ambitionen des Westens insgesamt ergeben werden. Die Diskussion darüber hat gerade erst begonnen und hängt auch davon ab, welchen Weg Afghanistan unter den Taliban einschlagen wird.

Drittens hat die Machtübernahme die geopolitische Lage in der Region verändert. Auch hier werden die kommenden Monate zeigen, welche Auswirkungen sich für die Region ergeben und welche Staaten die neue machtpolitische Situation zu ihren Gunsten nutzen werden.

Unabhängig davon, wie sich die Region entwickelt: Afghanistan wird auch zukünftig ein sicherheitspolitsicher und geostrategischer Hotspot bleiben. Oder in den Worten Homer Leas: “[a] doorway through which nations come and go; sometimes arches of triumph; sometimes those narrow exits through which nations, like men, pass to return no more.”

Fußnoten

[Teaser] Lea, Homer: The day of the Saxon, San Diego, CA 2003, Seite 198. 

[1] Isby, David C.: Afghanistan. Graveyard of empires : a new history of the borderlands, New York 2010. 

[2]  https://www.t-online.de/nachrichten/ausland/krisen/id_90622056/taliban-marsch-auf-kabul-der-fall-afghanistan-zeigt-die-schwaeche-des-westens-.html

[3]  https://www.thepioneer.de/originals/thepioneer-expert/articles/auswege-aus-der-afghanistan-katastrophe?utm_medium=newsletter&utm_source=steingarts-morning-briefing

[4] Dobbins, James F.: After the Taliban. Nation-building in Afghanistan, Washington, DC 2008  

[5]  https://www.theguardian.com/world/2021/aug/17/china-will-tread-carefully-in-navigating-the-talibans-return

[6] Journalist Ahmed Rashid on the Taliban’s Return to Power & What Comes Next for Afghanistan, August 16, 2021, https://www.democracynow.org/2021/8/16/us_war_in_afghanistan_taliban_takeover

Über den Autor

Julian Voje

Dr. Julian Voje

Head of Policy

Schwerpunktthemen: Deutsche Außen- und Sicherheitspolitik, Transatlantische Beziehungen, Geopolitik, Afghanistan, Lateinamerika

Dr. Julian Voje ist Leiter der Politikabteilung der Münchner Sicherheitskonferenz (MSC). Er studierte Politikwissenschaft, Geschichte und Volkswirtschaftslehre in Bonn, Léon (Spanien) und Austin (Texas, USA). In seiner Dissertation widmete er sich der „geostrategischen Bedeutung Afghanistans aus Sicht der USA, 1979-2008“. Vor seiner Zeit bei der MSC arbeite Julian Voje unter anderem im Deutschen Bundestag und bei der Konrad-Adenauer-Stiftung.