Meinungsbeitrag

Deutsche Außenpolitik – zwei Empfehlungen und eine persönliche Vision

Der Rückzug der USA, eine zerstrittene EU, Konflikte mit China – die künftige Bundesregierung steht vor großen Herausforderungen. Aber es gibt Hoffnung.

Der folgende Text ist ein Auszug aus der Dankesrede von Wolfgang Ischinger für den Hanns-Martin-Schleyer-Preis, mit dem der Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz am 27. September 2021 in Stuttgart geehrt wurde. Zusätzlich erschien der Text am 22. September 2021 in der Welt.

Außenpolitische Gewissheiten haben sich aufgelöst

Zweitausendzwanzig war das fünfzehnte Jahr in Folge, in dem sich der Zustand der liberalen Demokratie weltweit verschlechtert hat. Weniger als 20 Prozent der Weltbevölkerung leben nun in demokratischen Systemen. US-Präsident Biden nannte den Systemkonflikt zwischen Demokratie und Autokratie bei der Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) im Februar 2021 einen „inflection point“ – einen „Wendepunkt“ der Geschichte. Diese Krise des liberalen Ordnungsmodells ist nur eine der Krisen, in denen sich außenpolitische Gewissheiten Deutschlands aufgelöst haben und die künftige Bundesregierung deshalb mit ganz neuen Herausforderungen konfrontieren. 70 Jahre lang glaubten wir fest, durch die USA und die NATO geschützt zu sein.

Aber was würde denn aus der Sicherheit Deutschlands werden, wenn ein zweiter Donald Trump die Drohung mit der Verabschiedung aus der NATO wahr machen würde? Hätten wir einen Plan B? Mehr noch, haben wir eine Antwort darauf, dass die USA heute weniger als früher bereit sind, überproportionale Beiträge zur Erhaltung der internationalen Stabilität zu leisten? Was alles müsste geschehen, damit Europa dort

Konflikte eindämmen könnte, wo sich die Vereinigten Staaten zurückziehen? Die aktuellsten und verheerendsten Konflikte, in denen Europa kaum mehr als Zuschauer war, waren Syrien und Afghanistan. Bei der MSC nennen wir das „Westlessness“. Jahrzehntelang konnten wir an die „ever closer union“ der Europäischen Union glauben. Nicht nur durch Eurokrise und Brexit, sondern auch durch die aktuellen rechtsstaatspolitischen Auseinandersetzungen in der Europäischen Union ist dieser Glaube erschüttert worden.

Kann es sein, dass es heute aber nicht um Sicherheit mit, sondern vor Russland geht?

Was muss geschehen, um das europäische Projekt in eine stabilere Zukunft zu führen? Ganz ohne mutige Visionen, etwa zur Kapitalmarktunion, und ohne entsprechende deutsche oder deutsch-französische Initiativen wird das nichts werden. Und ein drittes Beispiel: unser Verhältnis zu Russland und zu China. Lange haben wir uns an die Vorstellung einer strategischen Partnerschaft mit Russland geklammert, eingebettet in das Regelwerk der Charta von Paris von 1990 und eine stabile gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur. Davon kann spätestens seit der Annexion der Krim und dem Krieg in der Ostukraine, Hackerangriffen, dem Fall Nawalny und verschiedenen kriminellen Vorfällen keine Rede mehr sein. Trotzdem heißt es immer wieder, europäische Sicherheit könne es nur mit Russland geben. Kann es sein, dass es heute aber nicht um Sicherheit mit, sondern vor Russland geht?

Wenn wir über Schuld aus Krieg und Nazi-Herrschaft und Versöhnung sprechen, dann adressieren wir diese Gedanken oft fast ausschließlich Richtung Moskau. Das geht so weit, dass kürzlich argumentiert wurde, die Nord-Stream-2-Pipeline habe etwas mit der Verpflichtung zum Brückenbau mit Moskau zu tun. Aus meiner Sicht ist das eine schwere Fehleinschätzung. Die Ukraine, heute ein unabhängiger Nachbarstaat der EU, hat mehr unter Wehrmacht und SS gelitten als irgendein anderer Teil der früheren Sowjetunion. Die Ukraine verlor im Zweiten Weltkrieg ein Viertel ihrer Gesamtbevölkerung. Müssen wir also nicht auf ukrainische Sorgen und Interessen mindestens genauso viel Rücksicht nehmen und Brücken bauen? Oder ist die Ostpolitik von Willy Brandt, die auf Polen genauso abzielte wie auf die Sowjetunion, inzwischen zu einer Ostpolitik abgemagert, die sich nur noch um Russland kümmert?

China: Das System wird autoritärer nach innen und aggressiver nach außen

Hoffnungen, dass sich China zu einem demokratischen, offenen System entwickeln würde, haben sich nicht erfüllt. Ganz im Gegenteil: Das System wird autoritärer nach innen und aggressiver nach außen. „Wandel durch Handel“ war also – zumindest bisher – auch im Falle China nicht erfolgreich. Streit über die Chinapolitik droht zum nächsten zentralen transatlantischen Dauerstreitpunkt zu werden! Daher mache ich drei kurze Vorschläge – zwei davon gehören zu den 15 außenpolitischen Anregungen, die die MSC der nächsten Bundesregierung nahelegt, der dritte ist eine ganz persönliche Vision.

Die deutsche Außenpolitik steckt in einer Schlechtwetterzone mit hohem Wellengang und Sturmgefahr. Deshalb ist es überfällig, den Bundessicherheitsrat zu einem veritablen nationalen Sicherheitsrat auszubauen und aufzuwerten. Unser Umgang mit den Entwicklungen in Afghanistan hat einmal mehr gezeigt, wie sehr die deutsche Außenpolitik unter dem Fehlen einer systematisch arbeitenden und umfassend zuständigen Organstruktur leidet.

Mein zweiter Punkt betrifft die außenpolitischen Entscheidungsprozeduren der EU. Vom Ausland wird die EU als außenpolitischer Akteur kaum ernst genommen. Die Art, wie der Hohe Beauftragte der Europäischen Union, Josep Borrell, vor einigen Monaten vom russischen Außenminister vor laufenden Kameras abgefertigt wurde, war ein Alarmsignal. Wir dürfen uns nicht wundern, dass die Außenpolitik der EU kraftlos wirkt, wenn bei jeder außenpolitischen Entscheidung – anders als in anderen Politikbereichen – jeder Mitgliedstaat jederzeit sein Veto einlegen kann, ohne dafür auch nur den geringsten Preis entrichten zu müssen. Um handlungsfähiger zu werden, benötigen wir auch in der Außenpolitik das Prinzip der qualifizierten Mehrheitsentscheidung. Das ist in der EU kein Selbstläufer. Aber wenn Bundeskanzlerin, Außenminister und wichtige Abgeordnete sich seit Längerem für die Einführung von Mehrheitsentscheidungen aussprechen, darf erwartet werden, dass endlich eine konkrete deutsche Initiative in Brüssel ergriffen wird. Das ist überfällig!

Völkerrecht darf kein Diktatorenschutzrecht sein

Mein dritter Punkt betrifft das Prinzip der internationalen Schutzverantwortung, englisch „Responsibility to Protect.“ Bereits im Jahre 2005 hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen dieses Prinzip beschlossen. In der internationalen Sicherheitspolitik und insbesondere in der Praxis des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen hat sich dieses Prinzip aber leider bisher nicht fest etablieren können. Was bedeutet das konkret? Prinzipien wie Souveränität und territoriale Integrität spielen im Völkerrecht eine zentrale Rolle. Wenn die Souveränität von Staaten aber auch dann unantastbar ist, wenn eine Regierung ihr eigenes Volk bekämpft oder gar auslöscht, wird das Völkerrecht zum Diktatorenschutzrecht.

Das schlimmste Beispiel aus der jüngeren Geschichte sind die Luftangriffe mit chemischen Waffen, die der syrische Diktator mit russischer Unterstützung gegen die eigene Zivilbevölkerung durchführen ließ. Warum durfte Russland das? Weil Russland von Syrien eingeladen war, und weil ein Mandat zur Verhinderung solcher Gräueltaten im Sicherheitsrat keine Chance hatte. Also Diktatorenschutzrecht statt Menschenschutzrecht? Das darf im Jahre 2021 nicht mehr das letzte Wort sein. Gerade wir Deutschen, die wir gerne auf dem hohen moralischen Ross sitzen, sollten die Initiative ergreifen, um dem Prinzip der Schutzverantwortung breitere Geltung in der Praxis zu verschaffen und um das Völkerrecht hin zu einem Menschenschutzrecht fortzuentwickeln.