Meinungsbeitrag

"So muss Deutschlands neue Außenpolitik aussehen" – Gastbeitrag von Christoph Heusgen im Spiegel

Es ist zu wenig, immer nur als Letzter das Nötigste zu tun: Für Deutschland ist es an der Zeit, seine außenpolitische Zurückhaltung aufzugeben und Führung zu übernehmen.

Putins Überfall auf die Ukraine bedeutet eine Zäsur. Eine Zäsur für Russland, das bis zum Ende der Putin-Diktatur nicht in den Kreis der zivilisierten Nationen zurückkehren kann. Für die Nato, deren seit 1989 vernachlässigte Aufgabe der Verteidigung des Bündnisgebietes wieder aktuell geworden ist. Und eine Zäsur für Deutschland – zumindest sollte es das sein.

Die Bundesrepublik steht vor ihrem dritten Neustart. Der erste fand 1949 statt: mit dem Aufbau von Demokratie, dem wirtschaftlichen Aufstieg, der Integration in die westlichen Bündnisse. Die zweite Phase begann 1989 mit der Wiedervereinigung. Deutschland legte an Gewicht zu, begnügte sich aber außenpolitisch mit einer eher passiven Rolle, obwohl es von der Globalisierung profitierte wie kaum ein anderes Land: Russland lieferte billige Energie, die westlichen Länder kauften unsere Produkte, China war erst eine verlängerte Werkbank und dann ein riesiger Markt. »Wandel durch Handel« blieb das Motto, wir wurden das zweitgrößte Geberland der Vereinten Nationen, aber bei außenpolitischen Herausforderungen lautete die erste Frage immer: »Was machen die anderen?« Möglichst es mit niemandem verderben: nicht mit den USA, mit Russland, mit China. Das Ende dieser Politik durch den putinschen Zivilisationsbruch markiert den Beginn der dritten Phase.

Bisher wollte es sich Deutschland möglichst mit niemandem verderben: nicht mit den USA, mit Russland, mit China. Das Ende dieser Politik durch den putinschen Zivilisationsbruch markiert den Beginn des dritten Neustarts der Bundesrepublik.

In der Rede von Bundespräsident Joachim Gauck auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 war dies bereits angelegt: Deutschland müsse mehr Verantwortung übernehmen, forderte er damals. Jetzt erlaubt Putins Aggression kein Zögern mehr, das internationale Umfeld hat sich verändert. Nicht nur im europäischen Osten. Es gilt auch nach China, in die USA, nach Afrika und Lateinamerika zu blicken.

Nach dem russischen Überfall hatten viele auf eine Distanzierung Chinas gehofft. Vergebens. China braucht Russland als Rohstofflieferanten und gleichgesinnten, undemokratischen und illiberalen Partner. Diese Unterstützung heute soll später Nibelungentreue garantieren – wenn China vielleicht nach Taiwan greift. Wie Putin in Russland führt Xi Jinping China als einen totalitären Staat. Anders als in Russland würde eine signifikante Abnahme des Wohlstands zum Aufbegehren der chinesischen Mittelschicht führen, nach außen erhebt China den Anspruch auf eine Ablösung der USA als globale Führungsmacht. China braucht Deutschland für seinen Wohlstand. Dies ist eine Stärke Deutschlands, auf der man aufbauen kann.

Die wirtschaftlichen Verflechtungen mit China sind tief. Auch wenn die Pandemie gelehrt hat, dass Europa sich möglicherweise zu stark abhängig gemacht hat, wird es unmöglich sein, diese Vernetzung absehbar zu kappen. China ist ein strategischer Konkurrent – seine Interessen sind trotzdem nicht deckungsgleich mit denen Russlands.

Die Vereinigten Staaten sind in der Ukrainekrise wieder in ihre traditionelle Rolle geschlüpft. Präsident Biden, der die innenpolitischen Probleme in seinem Land bekämpfen und sich außenpolitisch auf den Systemwettbewerb mit China konzentrieren wollte, musste nach Europa zurückkehren, um die Führung im Kampf gegen das revisionistisch-aggressive Russland zu übernehmen. Ohne amerikanische Waffen wäre die Ukraine verloren. Das transatlantische Einvernehmen war nie größer als auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar. Trotzdem werden sich die USA auf Dauer innenpolitisch auf ihre eigenen Probleme und außenpolitisch auf den pazifischen Raum konzentrieren.

Verantwortung zu übernehmen, kann nicht heißen, immer nur das Nötigste als Letzter zu machen.

Das ist die weltpolitische Lage. Deutschland hat die Wahl, sich abwartend und reagierend mit dem Schicksal einer von äußeren Entwicklungen abhängenden Regionalmacht zu begnügen oder diese Entwicklungen aktiv zu beeinflussen. Deutschland als viertstärkste Wirtschaftsmacht der Welt kann das. Deutschlands weltweites Ansehen erlaubt das auch. Und unsere Geschichte und unsere geografische Lage verpflichten uns dazu. Es wird allerdings kein Selbstläufer. Verantwortung zu übernehmen, kann nicht heißen, immer nur das Nötigste als Letzter zu machen. Es heißt, die eigenen Interessen zu definieren – und sie durchzusetzen.

Als deutscher Botschafter bei den Vereinten Nationen und zeitweiser Vorsitzender des Uno-Sicherheitsrates habe ich einen Satz immer wieder gehört: Bitte übernehmt eine Führungsrolle! Ein Botschafter eines wichtigen asiatischen Landes bat um stärkeres deutsches Engagement, um Chinas Druck widerstehen zu können. Ein afrikanischer Botschafter drängte: »Helft uns, den 1000-Pfund-Gorilla von unserem Rücken zu holen!«

Geld ist dabei nicht die Hauptsache, es braucht den politischen Willen zur Führung. Anfänge hat es gegeben: die Gründung des Normandie-Formats 2014 im ersten Russlandkrieg gegen die Ukraine, den Berliner Prozess zur Bindung der Balkanstaaten an Europa, die Berliner Konferenzen zur Stabilisierung Libyens. Heute sind wir wieder nur Getriebene: Der Bundeskanzler hat in seiner bemerkenswerten Rede im Bundestag die »Zeitenwende« angekündigt. Gefolgt ist bislang wenig.

Leitlinie unserer Außenpolitik muss sein, was Deutschland und Europa ihre längsten Friedensperioden beschert hat: das Rechtsstaatsprinzip.

Leitlinie unserer Außenpolitik muss sein, was Deutschland und Europa ihre längsten Friedensperioden beschert hat: das Rechtsstaatsprinzip. So wie in Deutschland das Grundgesetz und in Europa die europäischen Verträge die Basis allen Handelns sind, so wie das Bundesverfassungsgericht oder der Europäische Gerichtshof die höchsten Streitbeilegungsinstanzen sind, so muss für uns auch weltweit die auf der Uno-Charta beruhende internationale Rechtsordnung die Grundlage unseres Handelns sein.

Zur Durchsetzung sollten wir unser Personal an den deutschen Auslandsvertretungen außerhalb der Europäischen Union massiv aufstocken. Chinesische Botschaften verfügen in der Regel über ein Vielfaches an Personal. Als Botschafter bei den Vereinten Nationen habe ich erlebt, wie hart der Kampf um die Stimmen ist. Wir sind zwar einer der größten Geber, aber wir schaffen es nicht, unser Geld strategisch einzusetzen.

Die Trennung von Auswärtigem Amt und Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit ist nicht mehr zeitgemäß. Bündeln wir unsere Kräfte nicht, werden wir weiterhin nicht verhindern können, dass immer mehr Entwicklungsländer unter den Einfluss vor allem Chinas geraten.

Diese Fragen stellen sich nicht nur in Afrika. Die von Außenministerin Annalena Baerbock organisierte Geberkonferenz für die Republik Moldau war eine hervorragende Initiative, die die »Übernahme von Verantwortung« in die Praxis übertragen hat. Die Republik Moldau braucht aktuell Budgethilfe, um die Auswirkungen des Russlandkrieges abzufedern: Das ärmste Land Europas kann die akuten Lasten durch Hunderttausende Flüchtlinge und steigender Energiepreise nicht stemmen. Moldau steht seit Jahren auf der Kippe zwischen prorussischen und proeuropäischen Regierungen. Die Ergebnisse der Konferenz waren ernüchternd: Einer begrenzten Budgethilfe standen Hunderte Millionen zinsverbilligter Kredite aus dem Entwicklungshilfeministerium gegenüber. Was gut klingt, hilft dem Land kurzfristig nicht und kann es im Übrigen die Schuldentragfähigkeit kosten und damit der Möglichkeit berauben, IWF-Kredite in Anspruch nehmen zu können. Eine Politik aus einer Hand hätte hier Entscheidendes bewirken können. Russland hat schon indirekt den »Anschluss« eines Teils der Moldau, nämlich Transnistriens, angekündigt. Wenn das kein Alarmsignal ist, was braucht es noch?

Deutschland braucht einen dringend einen Nationalen Sicherheitsrat.

Die Bundesregierung muss dringend einen »Nationalen Sicherheitsrat« einrichten. In einem solchen Rat sollten die für unsere Sicherheit relevanten Fragen institutionell zusammengeführt werden: Außenhandeln, Verteidigung, Nachrichtendienste, Versorgung, Schutz der kritischen Infrastruktur, Umgang mit Cyberangriffen. Die Angst vor Kompetenzverlusten und das traditionelle Ressortprinzip verhindern die Gründung eines solchen Gremiums seit Jahrzehnten. Fast alle wichtigen Partner verfügen über eine solche Einrichtung. Wenn nicht jetzt, wo im Russlandkrieg alle diese Fragen im Zusammenhang betrachtet werden müssen, wann dann?

Wir werden der chinesischen Herausforderung nur begegnen können, wenn wir Partner finden. Dabei sollten wir uns auf Länder konzentrieren, die unseren Ansatz teilen, Länder, die versuchen Rechtsstaatlichkeit umzusetzen und regelmäßige Wahlen abhalten. Diese Länder sollten Budgethilfe erhalten und Hilfe bei der Stärkung der staatlichen Institutionen, der Bekämpfung der Korruption, der Finanzierung einzelner Infrastrukturprojekte, der Schaffung von Arbeitsplätzen, der Möglichkeit geordneter Einwanderung.

Es ist nicht ausgeschlossen, dass China, wenn es heftigen Gegenwind erfährt, einschwenkt; partnerschaftliche Ansätze und gemeinsame Projekte wären vorstellbar. Das funktioniert allerdings nur, wenn China massiven Druck spürt. Ein Beispiel: Im Zusammenhang mit den Olympischen Winterspielen wurde China weltweit wegen seiner Uiguren-Politik kritisiert. Bei einer kürzlichen Begegnung sagte mir der Präsident des Uigurischen Weltkongresses Dolkun Isa, dass dieser Druck gewisse Fortschritte erbracht habe. So sei die Anzahl der Kontrollpunkte in der Provinz Xinjiang massiv verringert worden, die Uiguren könnten sich wieder freier bewegen. Das ändert zwar nichts an ihrer grundlegenden Diskriminierung. Aber es beweist: Prinzipientreue, Zusammenhalt und Druck unsererseits zahlen sich aus.

Wir sollten auch versuchen, die Amerikaner von den Vorteilen einer regelbasierten internationalen Ordnung zu überzeugen. Diese gehören zwar zu den Gründern der Vereinten Nationen, aber der geschichtlich begründete »American Exceptionalism« gehört immer noch zum Fundament der US-Außenpolitik. Wir sollten trotzdem nicht aufgeben, sie zu einem klareren Bekenntnis zum internationalen Recht zu bewegen. Es würde ihren globalen Führungsanspruch stärken, nicht schwächen. So könnten wir sie auch von ihrer polarisierenden Fokussierung auf China und vom »Decoupling« abbringen, also von der Abkopplung des amerikanischen vom chinesischen Wirtschaftskreislauf, einer Politik, die auch auf chinesischer Seite verfolgt wird. Aber die Amerikaner respektieren nur Entschlossenheit. Zeigen wir diese nicht, werden alle schönen Worte nichts nützen.

Die Bundesregierung sollte außerdem dringend eine Balkankonferenz organisieren. Der Balkan wurde in den Neunzigerjahren schon einmal von einem Bürgerkrieg verheert, die Risse in der dortigen Sicherheitsarchitektur sind wieder deutlich. Auch die zentralasiatischen Staaten und die Mongolei, das Asean-Bündnis und viele lateinamerikanische Länder wünschen sich einen Partner, der ihnen hilft, sich aus der Umklammerung durch Russland und China zu befreien.

Die Welt verändert sich mit großer Geschwindigkeit. Es reicht nicht, dabei zuzuschauen und zu hoffen, der Sturm möge an uns vorbeiziehen.

Die Nato und die Europäische Union bleiben unsere geborenen Verbündeten. Die EU ist die Inkarnation des Prinzips der Stärke des Rechts, das Gegenmodell zum Recht des Stärkeren. Auch im Rahmen der EU sollten wir mithelfen, dass Staaten, die sich der regelbasierten Ordnung verschreiben, die erforderliche Unterstützung erhalten.

Die Welt verändert sich mit großer Geschwindigkeit. Es reicht nicht, dabei zuzuschauen und zu hoffen, der Sturm möge an uns vorbeiziehen. Deutschland muss und kann konkret Verantwortung übernehmen. Das ist in unmittelbarem deutschen Interesse.

Dieser Beitrag erschien ursprünglich in DER SPIEGEL 18/2022 sowie bei spiegel.de.