

"Der Bruch internationalen Rechts gehört zur Methode Putins" — Gastbeitrag von Christoph Heusgen in der Süddeutschen Zeitung
Seit vielen Jahren gehört es zur Methode des russischen Präsidenten, sich über das Recht hinwegzusetzen. Er darf in der Ukraine keinen Erfolg haben.
Der folgende Artikel von Christoph Heusgen ist zunächst als Gastbeitrag in der Süddeutschen Zeitung erschienen.
Viele Stunden, Tage und Nächte haben wir zusammen am Verhandlungstisch verbracht. Kostjantyn Jelissejew war außenpolitischer Berater des ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko. Es ging zumeist um das Minsker Abkommen und seine Umsetzung. Russland hatte den darin vereinbarten Waffenstillstand nicht eingehalten, seine schweren Waffen nicht zurückgezogen, den OSZE-Beobachtern die vereinbarte Bewegungsfreiheit nicht gewährt. Trotzdem bemühte sich Jelissejew darum, die ukrainischen Verpflichtungen aus der Vereinbarung zu erfüllen. Er glaubte an das Recht, an die Diplomatie.
Mit einem Federstrich hat Putin dem Minsker Abkommen nun den Garaus gemacht. Unter Bruch des Völkerrechts hat er seinen Truppen den Befehl erteilt, in die Ukraine einzufallen. Mit dem Beschuss von Zivilisten begeht er Kriegsverbrechen. Aber das berührt ihn nicht. Zur Verwirklichung seiner Großmachtträume schreckt er nicht davor zurück, 42 Millionen Ukrainer zu unterdrücken oder zu vertreiben, wobei er den Tod sehr, sehr vieler Zivilisten in Kauf nimmt.
Wen er deckt, wem er hilft
Der Bruch internationalen Rechts gehört zur Methode Putin: Er deckt den Tyrannen Assad in Syrien, dessen Foltermethoden und dessen Einsatz von Giftgas. Putin lässt auch seine politischen Gegner zu Hause, wie Boris Nemzow und zuletzt Alexej Nawalny, umbringen oder vergiften. Er lässt unliebsame Personen in Berlin oder in London töten. Seine Piloten bombardieren Kliniken in Idlib, seine Söldner treiben ihr Unwesen in Libyen, in Zentralafrika, in Mali. Putin setzt auf das Recht des Stärkeren und auf die Schwäche der Staaten, die auf die Stärke des Rechts setzen.
Putin darf keinen Erfolg haben. Er versucht, die Nachkriegsordnung zu unterminieren, die auf friedliche Beilegung von Streitigkeiten setzt: die Charta der Vereinten Nationen, die EU-Verträge, unser Grundgesetz. Putins Verbrechen dürfen nicht ungesühnt bleiben. Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Karim Khan, tut richtig daran, ein Verfahren gegen Putin zu eröffnen. Es mag heute unwahrscheinlich erscheinen, aber warum sollte es nicht doch eines Tages gelingen, Putin so wie die Serbenführer Mladić und Karadžić einem Richter zuzuführen? Wichtig ist es schon jetzt, die begangenen Kriegsverbrechen aufzuzeichnen und Zeugenaussagen festzuhalten, damit sie später verwendet werden können.
Der Internationale Gerichtshof sollte die Behauptung Putins überprüfen, die Ukraine habe Genozid im Donbass begangen. Er wäre dafür zuständig, allerdings kann unterstellt werden, dass Putin die Verifizierung seiner eigenen Behauptung verhindern wird. Er ist ein Lügner, der nicht davor zurückscheute, der Weltgemeinschaft weiszumachen, mit den grünen Männchen auf der Krim nichts zu tun gehabt zu haben. Seine indirekte Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen beweist das Ausmaß der Skrupellosigkeit. Kein Wunder, dass sich in Russland - rotz massiver Repressionen - Widerstand gegen ihn regt, quer durch alle Schichten.
Es braucht Korridore für die Menschen in Kiew
Die Münchner Sicherheitskonferenz vor zwei Wochen hat nach innen und außen ein beeindruckendes Bild der Geschlossenheit geboten. Diese Geschlossenheit hat Putin, der die USA und Europa für dekadent hält, überrascht. Er ist überrascht worden vom Freiheitswillen der tapferen Ukrainer, denen er eine eigene Identität abgesprochen hat. Die weltweite Welle der Sympathie und Hilfsbereitschaft hat ein noch vor Kurzem unvorstellbares Ausmaß erreicht. Und die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat am Mittwoch in seltener Einigkeit die russische Invasion scharf verurteilt. Von den 193 Mitgliedstaaten standen nur Belarus, Syrien, Nordkorea und Eritrea auf Seiten Russlands. Eine Gesellschaft von Diktatoren, Tyrannen und Folterknechten. Putin hat sich ins Abseits manövriert.
Wir Deutsche haben uns in letzter Minute durchgerungen, den Freiheitskampf der Ukrainer auch durch die Lieferung von Waffen zu unterstützen. Jetzt sollten wir uns intensiv Gedanken machen, wie wir die umzingelte Bevölkerung in Kiew mit Lebensmitteln versorgen. Als die Russen West-Berlin einschnürten, haben die Alliierten durch eine Luftbrücke das Überleben der Menschen ermöglicht. Wir dürfen dem russischen Aushungern von drei Millionen Kiewern und den eingekesselten Menschen an anderen Orten nicht schulterzuckend zuschauen. Humanitäre Korridore sollten eingerichtet werden, die Zivilisten die Flucht vor den Angriffen und gleichzeitig die Versorgung der Menschen mit Lebensmitteln erlauben. Die Verweigerung solcher Korridore würde gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen, Putin ein weiteres Kriegsverbrechen begehen. Der UN-Sicherheitsrat sollte wieder befasst werden. China, Indien und die Vereinigten Arabischen Emirate dürfen sich dort nicht erneut enthalten. China und Indien sollten ihre geostrategischen Überlegungen hintanstellen und dem humanitären Recht oberste Priorität einräumen. Gleiches gilt für die Emirate, die sich fragen lassen müssen, wie ihre Unterstützung Russlands in Libyen, im Sudan und jetzt im Sicherheitsrat vereinbar ist mit ihrer Selbstdarstellung als modernes Wirtschaftszentrum und Touristenattraktion.
Was mein alter ukrainischer Kollege und sein Ex-Chef Poroschenko jetzt tun
Wie Bundeskanzler Scholz zu Recht gesagt hat, stehen wir an einer Zeitenwende. Siegt das Recht des Stärkeren oder die Stärke des Rechts? Es geht heute nicht um den Konflikt zwischen Ost und West. Es geht um den weltweiten Konflikt zwischen den Ländern, die die auf der Charta der Vereinten Nationen beruhende internationale Rechtsordnung unterstützen, und denen, die diese Ordnung ablehnen oder als Menu à la carte betrachten. Dieser Konflikt fängt bei uns in Europa an. Die Bürgermeister von Budapest, Warschau und Istanbul haben auf der Münchner Sicherheitskonferenz beredt Zeugnis abgelegt von ihrem harten Kampf gegen illiberale Regierungen, die den Rechtsstaat infrage stellen. Aber auch über Europa hinaus müssen wir uns engagieren, dürfen den totalitären Konkurrenten in Afrika, Lateinamerika und Asien nicht kampflos das Feld überlassen.
Kostjantyn schrieb mir, dass er seine Familie im Westen des Landes in Sicherheit gebracht hat. Er und sein alter Chef Petro Poroschenko haben sich Kalaschnikows besorgt und werden den russischen Soldaten im Straßenkampf versuchen, Paroli zu bieten. Ich muss pausenlos an Kostjantyn denken. Ähnlich wird es vielen Menschen in Deutschland gehen, die Angehörige und Freunde in der Ukraine haben. Wir dürfen sie nicht im Stich lassen.