

Leading the Way: Wolfgang Ischinger im Interview mit Deloitte
Nach dem Zerfall der alten Weltordnung werden die globalen Machtpole gerade neu justiert. Wie heißen die Führungsmächte von morgen? Wolfgang Ischinger, Präsident des Stiftungsrats der Stiftung Münchner Sicherheitskonferenz, benennt die Favoriten.
Dieses Interview erschien in “Leading the way 2024/25”, einem Magazin von Deloitte.
Herr lschinger, dieses Interview führen wir kurz nach den Präsidentschaftswahlen in den USA. Diese hat ein Politiker für sich entschieden, der für eine radikale Rückbesinnung auf die ureigenen Interessen der Vereinigten Staaten steht. Ist damit der Westen als Führungsmacht mit Exportanspruch endgültig Geschichte?
Zunächst einmal ist die europäische Abhängigkeit von den USA heute größer als je zuvor. Mit Ukraine-und Nahostkrieg, dem Handelskonflikt mit China und einem aggressiven Russland sehen sich die Partner der USA zahlreichen Volatilitäten gegenüber. Und trotz zahlreicher Weckrufe, die bereits in den Neunzigern mit den Balkankriegen einsetzten, haben wir Europäer es versäumt, eine eigene Verteidigungsstrategie zu entwickeln. Wir sind schlicht nicht verteidigungsfähig.
Was bedeutet das für unser Verhältnis zur Führungsmacht USA?
Dass wir - nicht zuletzt wegen ihrer nuklearen Abschreckungspotenziale - weiterhin massiv auf unsere amerikanischen Partner angewiesen sind. Wir sind ihnen ausgeliefert, und das weiß keiner besser als Donald Trump.
Wie wird sich Präsident Trump im Angriffskrieg auf die Ukraine positionieren?
Ich halte es tatsächlich für denkbar, dass er im Rahmen seiner persönlichen Gipfeldiplomatie bei Wladimir Putin anrufen und versuchen wird, über die Köpfe von Ukrainern und Europäern hinweg einen Deal zu verhandeln. Damit wir uns nicht eines Tages einem solchen fait accompli gegenübersehen, müssen wir dafür sorgen, eingebunden zu werden.
Wie zeitgemäß ist die Vorstellung von „dem Westen“ als Führungsmacht denn überhaupt noch? Der Soziologe Harald Welzer verweist darauf, dass sich die USA bereits unter Präsident Barack Obama von Europa ab- und dem indo-pazifischen Raum zugewandt haben. Seitdem, so Welzer, könne man allenfalls noch von einem „Restwesten“ sprechen.
Richtig daran ist, dass sich die amerikanische außenpolitische Debatte in den letzten 20 Jahren auf Asien konzentriert hat. China wird heute als der eigentliche militärische, strategische und ökonomische Herausforderer verstanden und daraus eine Neuausrichtung der amerikanischen Politik abgeleitet. Präsident Biden hat diese Umorientierung nach dem Angriff auf die Ukraine unterbrochen. Als erfahrener Transatlantiker verstand er, dass sich die Dinge durch den russischen Angriff so verschoben hatten, dass eine verstärkte amerikanische Präsenz in Europa nötig war, um die globalen Interessen der US-Amerikaner zu schützen.
Wenn die Alte Welt doch an Relevanz verliert: Welches geopolitische Interesse haben die USA denn noch an Europa?
Die USA verfügen über ein Asset, das in dieser Form weder Russland noch China besitzen, nämlich Partnerschaften und Allianzen wie die NATO. Deren Wert wird von führenden demokratischen Außenpolitikern und -politikerinnen übrigens ebenso gesehen wie von republikanischen. Trumps Spiel mit der Drohung, die NATO hängenzulassen, war daher meines Erachtens nie ernst gemeint. In Washington weiß man genau, dass ein Verlust der europäischen Gegenküste einem Schuss ins eigene Knie gleichkäme. Allerdings ist es ziemlich teuer, einen solchen Führungsanspruch an zwei Fronten durchzusetzen. Einige Strategen des Trump-Lagers vertreten tatsächlich die These, Amerika könne sich nicht zeitgleich an zwei Fronten engagieren und solle sich daher auf China konzentrieren. Ich habe in der Diskussion mit ihnen die entgegengesetzte These vertreten: Wenn die USA China vor einer Intervention in der Taiwanstraße abschrecken wollen, ist die beste Methode dafür eine klare Kante im Ukrainekonflikt. Ich weiß aus erster Hand, dass man in Peking die Entwicklung im Ukrainekonflikt fast stündlich beobachtet. Würden die USA nach dem Afghanistan-Debakel erneut Schwäche zeigen und einen Partner über Nacht fallen lassen, würde das in Peking als Signal interpretiert, dass die USA ihre Boys künftig nicht mehr in Konflikte senden wollen.
Sie sind einer der wenigen deutschen Spitzenbeamten, die auch über Erfahrungen in Vorstandsetagen verfügen. Wie unterscheidet sich Führung im politischen Raum von jener im Wirtschaftsleben?
Es gibt eine Menge gemeinsamer Wirkmechanismen erfolgreicher Führung. Dazu zählen der richtige Umgang mit Menschen wie auch die Fähigkeit, zuhören zu können. Allerdings gibt es wesentliche Unterschiede: So kommt es in der Politik sehr viel stärker als in der Wirtschaft auf das Vermögen an, andere mitnehmen und für seine Vorhaben begeistern zu können. Vorstandsvorsitzende oder Firmeninhaber:innen können sich ja gegen ihre Mitarbeitenden durchsetzen, wenn sie es für richtig halten. Beim Typus Unternehmer:in ist daher der Mut, Risiken einzugehen und notfalls Alleingänge zu wagen, stärker ausgeprägt. In der Politik hingegen muss man seine Fraktion, Koalitionspartner und Partei mitnehmen, wenn man etwas durchsetzen will. Politik ist im Grunde ein fortlaufender Mediationsprozess. Das ist in den Vorstandsetagen aber so nicht bekannt.
Woran merkt man das?
Während meiner Zeit als Generalbevollmächtigter des Allianz-Konzerns wurden in Berlin immer wieder Gesetzentwürfe verhandelt, die im Allianz-Vorstand nicht auf allzu große Begeisterung stießen. ,,Ja können Sie nicht für uns bei der Frau Merkel intervenieren?" hieß es dann schnell. Könnten wir, habe ich geantwortet, aber auch als DAX-Konzern sollten wir das höchstens einmal pro Jahr tun. Viel zielführender wäre es, wenn wir dem Hilfsreferenten im Finanzministerium, der den betreffenden Entwurf verfasst hatte, erklären würden, warum eine andere Formulierung uns weniger Bauchschmerzen bereiten würde.
Diese Art von Vorgehen war meinen Vorstandskollegen:innen fremd. Ich glaube, das fehlende Verständnis für die Führungsmechanismen der Politik liegt darin begründet, dass in Deutschland politische und wirtschaftliche Sphären weit auseinanderliegen. In Großbritannien hingegen treffen sich Unternehmer:innen und Politiker:innen ständig in denselben Golf- oder Tennisclubs. In Frankreich leben sie ohnehin alle in Paris und kennen sich schon vom Studium an der ENA. Hierzulande aber sehen sich Spitzenpolitiker:innen und Manager:innen höchstens mal auf Wirtschaftsgipfeln. Auch im Bundestag finden Sie heute kaum noch Unternehmer:innen.
Dass nur wenige Politiker:innen einen Wirtschaftshintergrund und viele keine berufliche Alternative zum Politikerdasein haben, führt nach Auffassung des ehemaligen Managers und FDP-Politikers Thomas Sattelberger zu einem weiteren Problem: Um ihre berufliche und ökonomische Existenz zu retten, müssten Politiker:innen und politische Beamte:innen Haltung und Agenda beständig der aktuellen Mehrheitsmeinung anpassen.
Die Abhängigkeit von Bundestagsmandaten ist in der Tat ein Problem. Wir brauchen mehr Leute wie den ehemaligen Gold man Sachs-Manager Jörg Kukies, der jetzt Finanzminister geworden und finanziell vermutlich unabhängig ist. Wir brauchen gleichzeitig mehr Gelegenheiten für hohe Beamte, eine Zeitlang in der Wirtschaft Erfahrungen zu sammeln. Was auch fehlt, ist die Möglichkeit, Beamte für besondere Leistungen zu honorieren. Momentan ist das nicht möglich, wie ich aus meiner Erfahrung als Staatssekretär weiß: Wenn ich da eine:n verdiente:n Referatsleiter:in für herausragende Leistungen mit einem Bonus belohnt hätte, wäre umgehend eine Konkurrenzklage der anderen vor dem Verwaltungsgericht gefolgt. Und weil das so ist, herrscht in weiten Teilen des Öffentlichen Dienstes das Gefühl, Leistung lohne sich nicht. Was vielfach dazu führt, dass sie erst gar nicht erbracht wird.
Trauen Sie Donald Trump derartige strategische Weitsicht zu?
Sicher wird Trump nicht der Versuchung widerstehen können, auf direktem Wege einen Deal mit Wladimir Putin auszuhandeln. Er hat aber gleichzeitig kein Interesse daran, vor der Weltöffentlichkeit als Schwächling dazustehen, der Putin die Ukraine zum Fraß vorwirft. Er weiß genau, dass mit einem solchen Schritt seine Einflussmöglichkeiten in Europa, aber auch in China massiv schwinden würden.
Bewegen wir uns in eine Welt der zwei Weltmächte China und USA, zwischen denen jede andere Nation ihre Position finden muss? Oder sehen Sie mittelfristig eher eine multipolare Welt auf uns zukommen?
Was würde denn eine multi polare Welt, wie sie ja auch in Deutschland von manchen als wünschbare Zukunft betrachtet wird, in Wirklichkeit bedeuten? Eine solche Welt bestünde im Wesentlichen aus dem diktatorischen Russland, dem diktatorischen China sowie einigen unsicheren Kantonisten wie der Türkei, Indien, Südafrika und Brasilien, von denen man noch nicht so genau weiß, wie sie sich entscheiden werden. Dagegen wären unsere westlichen Demokratien krass in der Minderheit.
Ich halte eine bipolare Welt mit China auf der einen und einem von den USA geführtem Westen auf der anderen Seite für wesentlich wünschenswerter als eine multipolare und damit chaotische Weltordnung. Die multipolare Welt ist eine Fata Morgana.
Welche weltpolitische Agenda verfolgt dabei die chinesische Führung?
Sofern Chinas Entwicklung nicht durch innenpolitische Verwerfungen gestört wird, wird es sich seine Rolle als Weltmacht nicht mehr nehmen lassen. Schon jetzt übernimmt China in europäischen Konflikten zumindest im Hintergrund aktive Rollen. Im Nahen Osten hat es vor zweieinhalb Jahren zur Überraschung aller einen iranisch-saudischen Handshake organisiert - natürlich nicht aus Liebe zur Region, sondern aus naheliegenden strategischen Erwägungen. Denn China braucht Stabilität in seinen Absatzmärkten, um nach den Desastern der Corona- und Immobilienkrisen wieder ökonomisch wachsen zu können. Es wird sich daher allen Versuchen der USA - oder Aktivitäten, die in Peking als solche Versuche gewertet werden - widersetzen, die seine ökonomische Entwicklung behindern könnten. Deshalb ist das Verhältnis zwischen den USA und China der geopolitische Schlüsselfaktor unserer Zeit. Ich halte es mit Henry Kissinger, der meinte: Die Welt ist groß genug für eine Koexistenz oder vielleicht sogar eine Kooperation der beiden Weltmächte.
Der neue amerikanische Präsident hingegen scheint in China den Staatsfeind Nr. 1 zu sehen.
Genau das bereitet mir große Sorge. Und es wäre die Aufgabe der Europäer, hier als Stimme der Vernunft zu agieren und in Fragen von Klimapolitik, KI-Regulierung und anderen Themen für mehr Kooperation mit China zu sorgen.
Von den Europäern wird ja seit langem verlangt, eine stärkere Führungsrolle zu übernehmen. Danach sieht es aber absolut nicht aus.
Wir haben gar keine andere Wahl, als den künftigen Weltmächten mit einer europäischen Stimme entgegenzutreten, denn allein nimmt uns in Delhi, Peking oder Washington niemand ernst. Aber diese Kraft fehlt der Europäischen Union. Das liegt auch daran, dass sich mit Frankreich und Deutschland die europäischen Schlüsselnationen uneins sind. Zusätzliche Gefahr droht dem Europäischen Projekt durch die anhaltende Wirtschaftsschwäche der Bundesrepublik. Es gibt wichtige EU-Mitgliedsländer, die der Europäischen Union allein deshalb die Stange halten, weil sie Geld aus Brüssel erhalten.
Die Stärke Europas hängt also auch an der wirtschaftlichen Stärke Deutschlands.
Ich sehe schwarz für das Europäische Projekt, sollte Deutschland seine bisherige Rolle als Netto-Geberland der Europäischen Union nicht mehr so ausüben können wie in den vergangenen Jahrzehnten.
Vom ehemaligen EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker stammt diese nüchterne Einsicht: ,,Wir Politiker wissen schon, was zu tun wäre. Wir wissen nur nicht, wie wir danach wiedergewählt werden können."
Für gewählte Politiker:innen ist das ein Dilemma. Wer sich aber für eine politische Karriere entscheidet, muss auch vor sich selbst bestehen können. Helmut Schmidt bildet da für mich ein großes Vorbild: Als Kanzler ist er seiner Linie treu geblieben, obwohl er wusste, dass diese Standhaftigkeit das Ende seiner Kanzlerschaft bedeuten würde. Seine Standhaftigkeit hat ihn dann tatsächlich das Amt gekostet, aber internationale Anerkennung eingebracht. Völlig zu Recht, natürlich.
Apropos Standhaftigkeit: Sie waren während einer dramatischen Phase im Vorfeld des lrakkrieges Deutscher Botschafter in den Vereinigten Staaten. Damals kritisierte der Außenminister Joschka Fischer US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld öffentlich auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Nachdem Rumsfeld über angebliche Giftgasprojekte des Irak sprach, konterte Fischer ihn vor laufenden Kameras mit den Worten „I am not convinced". Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie Ihren Chef diesen Satz sagen hörten?
Ich fand es mutig und richtig von Joschka Fischer, seine Zweifel zu äußern. Ich saß als Teilnehmer ebenfalls im Saal und habe anschließend auch noch eine eigentlich brave Frage an Donald Rumsfeld gerichtet: ,,Herr Verteidigungsminister, besorgt es Sie nicht, dass eine große Zahl nicht nur der Anwesenden, sondern Menschen in der internationalen Gemeinschaft Zweifel an der Richtigkeit des amerikanischen Vorhabens haben?"
Wie lautete die Reaktion?
Rumsfeld wies seine Mitarbeiter:innen an, mich nicht mehr zu Veranstaltungen des Pentagons einzuladen. Das haben sie ein paar Monate lang durchgehalten.