Meinungsbeitrag

Russland, die NATO und wir: Endet unsere Suche nach einer europäischen Sicherheitsordnung in einem Krieg?

Für den Zerfall der Beziehungen zu Russland trägt Russland große Verantwortung. Aber auch die Nato hat schwere Fehler gemacht. Nun steht eine gewaltige Aufgabe an. Ein Meinungsbeitrag von Wolfgang Ischinger.

Wir schreiben das Jahr 1993/94. Polen, Ungarn und andere frühere Mitgliedstaaten des Warschauer Pakts drängen zur NATO, der deutsche Verteidigungsminister Volker Rühe fördert das, die USA wollen eine NATO-Erweiterung lieber vermeiden, weil sie Probleme im amerikanischen Senat befürchten. Bundeskanzler Kohl sieht die Sache skeptisch und behält sich vor, zunächst einmal persönlich mit Boris Jelzin zu sprechen. Ergebnis: Moskau ist natürlich nicht begeistert, akzeptiert aber die Aufnahme neuer Mitglieder, falls parallel dazu das Verhältnis Russland-NATO auf eine grundsätzlich neue, kooperativere Basis gestellt wird. Exakt auf dieser Linie verhandelt die Allianz dann ab 1996 mit Russland über die „NATO-Russland-Grundakte”. Zwei Kernelemente: einerseits die Aufnahme neuer Mitglieder, allerdings mit erheblichen Beschränkungen, zum Beispiel für NATO-Truppen-Dislozierungen sowie für eine Stationierung nuklearer Waffen, andererseits die Schaffung eines später als „NATO-Russland-Rat” bekannt gewordenen Beratungsgremiums. Die Grundakte ist übrigens für Russland sehr vorteilhaft. Weder in Polen noch in den baltischen Staaten dürfen nukleare Waffen disloziert werden, aber Russland kann – mitten in der EU bzw. der NATO sozusagen – nukleare Waffen in Kaliningrad stationieren, die in wenigen Minuten Berlin in Schutt und Asche legen könnten. Soviel zur „Einkreisung” Russlands durch das Bündnis.

Mit der Unterschrift unter die NATO-Russland-Grundakte akzeptiert Russland also ganz offiziell das Prinzip, dass das nordatlantische Bündnis weitere Mitglieder aufnehmen kann. Das andauernde Geraune über anders lautende westliche Versprechungen gegenüber Russland im Jahre 1990 ist eigentlich damit seit 1997 endgültig vom Tisch: Russland hat die NATO-Erweiterung schriftlich akzeptiert.

Nur wenige Wochen später tagt im Sommer 1997 der NATO-Gipfel in Madrid, bei dem es um eine erste Entscheidung über die Aufnahme neuer Mitglieder ging. Die USA wollten damals maximal drei neue Mitglieder, nämlich Polen, Ungarn und die Tschechische Republik. Frankreich fordert mit Rücksicht auf die Frankophonie mindestens auch die Aufnahme von Rumänien, Dänemark plädiert für die Balten. Als sich keine Einigung abzeichnet, wird beschlossen, im kleinen Kreis der Staats- und Regierungschefs und ihrer Außenminister nebst maximal je zwei Mitarbeitern weiter zu diskutieren. Ein von uns hastig hingekritzelter Kompromissvorschlag wird schließlich von Helmut Kohl auf Deutsch vorgetragen. Präsident Clinton bittet um eine wörtliche englische Fassung, mit der sich schließlich alle einverstanden erklären: Eine erste Erweiterungsrunde in Madrid mit den von USA befürworteten drei, gefolgt von weiteren Runden, unter anderem mit Rumänien und Bulgarien sowie den Staaten des baltischen Raumes, das Ganze gekoppelt an ein weitreichendes Kooperationsangebot gegenüber der Russischen Föderation. So beschlossen.

Festzuhalten bleibt, dass diese Beschlüsse mit Moskau informell so vorabbesprochen waren, dass keine strategischen Gräben neu aufbrachen. Im Rückblick eine Meisterleistung sinnvoller Ostpolitik, von der damaligen Bundesregierung aktiv und führend mitgestaltet.

Warum sind wir dann heute an einem so gefährlichen Tiefpunkt der Beziehungen zu Russland angelangt?

Auch wenn es richtig ist, dass die Verantwortung für den Zerfall der Beziehungen und für den eklatanten Vertrauensverlust zwischen West und Ost im Wesentlichen im russischen Verhalten seit dem Georgienkrieg 2008 liegt, dürfen wir nicht Fehlentscheidungen übersehen, für die die NATO selbst auch Verantwortung trägt.

Der westliche Sündenfall ereignete sich beim NATO-Gipfel in Bukarest im April 2008, als die Bush-Administration ohne Rücksicht auf Verluste den Weg für die Ukraine und Georgien in das Bündnis freimachen wollte. Ein Jahr vorher hatte Putin seine berühmte Warn-Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz gehalten – keinen Schritt weiter! Washington wollte das ignorieren. Normalerweise werden NATO-Gipfel Kommuniqués von den Botschaftern in Brüssel entworfen und ausgehandelt. Im April 2008 konnten die Profis in Brüssel sich aber nicht einigen. Deutschland, Frankreich und einige andere waren strikt gegen das grüne Licht für die Ukraine und Georgien als Beitrittskandidaten, weil es hier tatsächlich zum ersten Mal um die Aufnahme von Teilen der früheren Sowjetunion ging, – die 1940 von der Sowjetunion annektierten baltischen Staaten waren auch aus russischer Sicht ein Sonderfall. Umgekehrt insistierte aber die US-Delegation, vermutlich weil Präsident Bush dem georgischen Präsidenten Saakaschwili und wohl auch der ukrainischen Seite bereits vorab signalisiert hatte, er werde einen Beschluss zu ihren Gunsten erwirken. So landete dann der strittige Kommuniqué-Entwurf in Bukarest auf dem Verhandlungstisch der Staats- und Regierungschefs selbst. Die schließlich gefundene Kompromissformel („Diese Länder werden Mitglieder der NATO werden“) schien Frankreich und Deutschland akzeptabel, weil die Ankündigung ja nicht mit einem Datum versehen war und man die konkrete Befassung mit einem Erweiterungsprozess im Rahmen eines Membership Action Plan verhindert hatte. Aus Moskauer Sicht war und ist die Bukarester Kompromissformel aber genau das Gegenteil: nämlich eine NATO- Mitgliedschaftsperspektive und damit eine  nicht hinnehmbare Bedrohung der von Russland traditionell geforderten Einflusssphäre.

In der Folgezeit war es dann auch ein erkennbares Ziel russischer Politik, jeder Konkretisierung des abstrakten Mitgliedschaftsversprechens für die beiden Staaten einen Riegel vorzuschieben. Gegenüber Georgien gelang das bereits im Sommer 2008 mit der Abtrennung Abchasiens und Südossetiens von Georgien. Was die Ukraine anbetrifft, glaubte Moskau zunächst, Präsident Janukowytsch durch politische, ökonomische und finanzielle Anreize von Schritten nach Westen abhalten zu können. Dieser Versuch endete zu Jahresbeginn 2014 im blutigen Maidan-Aufstand und der Flucht Janukowytschs. In Moskau wurde damals die Sorge kolportiert, demnächst könnten NATO-Schiffe in Sewastopol und anderen Schwarzmeer-Häfen andocken und damit die russische Sicherheit im Schwarzmeer-Raum entscheidend beeinträchtigen. In einer Nacht- und Nebelaktion riss die Russische Föderation im März 2014 die Krim an sich und unterstützte separatistische Strömungen im Donbass-Gebiet politisch und zunehmend militärisch, mit inzwischen bald 15.000 Opfern. Das Klassenziel, nämlich eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine zu verhindern, wurde auf diese Weise mit gröbsten militärischen Mitteln jedenfalls vorläufig durchgesetzt. Es gibt ja in der NATO das Dogma, kein Land aufzunehmen, das in sich gespalten ist. Auch deswegen ist Moskau nicht an einer Lösung der Konflikte im Donbass, in Abchasien und in Südossetien interessiert.

Parallel zu dieser militärischen Verhinderungsstrategie hat Moskau jedoch auch immer wieder Versuche gestartet, die existierende europäische Sicherheitsarchitektur, gegründet auf der Helsinki-Schlussakte von 1975 und der Charta von Paris von 1990, im Sinne der russischen Sicherheitsinteressen zu verändern. Der damalige Präsident Medwedew präsentierte 2008 einen Textentwurf, der fast nirgendwo Zustimmung fand und schließlich im sogenannten Korfu-Prozess der OSZE versandete. Die jetzt von Russland vorgelegten Vorschläge gehen in ihrer Direktheit und Kompromisslosigkeit weit über das damalige Medwedew-Papier hinaus, insbesondere wenn hier auf eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine dauerhaft und explizit verzichtet werden soll. Deshalb bedarf es gar keiner vertieften Analyse, um zu erkennen, dass die neuen Vorschläge von Präsident Putin nicht in der Absicht verfasst worden sind, einen kompromissfähigen Text zur Fortentwicklung der europäischen Sicherheitsarchitektur vorzulegen. Durch den gleichzeitigen und wiederholten Aufbau einer massiven militärischen Drohkulisse will Russland vielmehr erzwingen, dass der Westen – aus russischer Sicht die USA – direkt oder indirekt auf die russischen Petita eingeht, damit so ein Krieg über die Ukraine oder in der Ukraine verhindert werden kann. Dies ist nichts anderes als ein außerordentlich gefährliches, politisch-militärisches Pokerspiel mit sehr hohem Einsatz. Daran ändern auch einzelne militärische Rückzugsentscheidungen nichts. Die ultimativen Drohungen werden sogar wiederholt.

Wie Brzezinski sagte: ohne Ukraine ist Russland einfach ein großes Land, mit der Ukraine aber ein „Empire”, eine Weltmacht. In diese Richtung strebt Putin, bzw. dahin will er zurück – die Geschichte zurückspulen bis zur Lage vor 1997, wie jetzt die russische Regierung selbst erläutert hat.

Allerdings geht Geschichte nicht rückwärts: Moskau hat mit seiner Pufferstaaten-Dogmatik selbst am meisten dazu beigetragen, dass die Ukraine eine immer stärkere anti-russische Identität entwickelt hat. Ja: nichts hat das Streben Osteuropas in die NATO stärker beflügelt als die russische Weigerung, die Souveränität der eigenen Nachbarn zu respektieren. Carl Bildt hat recht: Putin droht als der russische Präsident in die Geschichte einzugehen, der die Ukraine verloren hat.

Was also sollten wir Europäer, was sollte die NATO in dieser Lage tun?

Der Rückgriff auf das seit einem halben Jahrhundert gültige Grundrezept der NATO, auf die Doppelstrategie des Harmel-Berichts, lohnt sich. Kurz zusammengefasst: so viel Abschreckung durch militärische Stärke wie nötig, und so viel Kooperations- und Dialogangebot wie möglich.

Zum Thema Abschreckung gehört nicht nur die nukleare Komponente und die “Enhanced Forward Presence” in den baltischen Staaten und in Polen, dazu gehört neben vielen anderen Elementen  auch die Frage von Waffenlieferungen an die Ukraine. 2015 hat Angela Merkel sich dagegen ausgesprochen. Die Lage heute ist freilich eine  andere, dringendere: Wenn wir auf russischer Seite heute den Eindruck erwecken, unentschlossen zu sein, könnte das in Moskau als Zeichen von Schwäche gedeutet werden, also als das Gegenteil von wirksamer Abschreckung. Die „Ertüchtigung” – um einen Merkel-Begriff zu benutzen – der Defensivkraft der Ukraine sollte deshalb eine bedeutsame Option bei Überlegungen zu wirksamer Abschreckung sein – natürlich ohne damit eine Eskalation zu provozieren. Berlin sollte dabei nicht am Spielfeldrand stehen, nicht zuletzt, um die deutsche Glaubwürdigkeitslücke wegen Nord Stream 2 in den Hintergrund treten zu lassen.

Sollte es in der Folge nämlich zu einem militärischen Vorrücken Russlands kommen, würden die politischen, ökonomischen und militärischen Folgekosten für uns dramatisch höher werden. Man stelle sich nur die Schutzmaßnahmen vor, die dann z.B. die Balten vom Bündnis und damit auch von uns erwarten würden. Ergo: Konfliktprävention durch Abschreckung und Diplomatie ist das erprobte Rezept.

Wie sollte der zweite Teil der Doppelstrategie, das diplomatische Dialogangebot, ausgestaltet werden?

Unter gar keinen Umständen sollte die Allianz in der aktuellen gefährlichen Lage die russischen Vorschläge einfach abtun. Es darf an die Lage 1973, zu Beginn des Helsinki-Prozesses, erinnert werden. Damals lagen sowjetische Vorschläge und westliche Gegenvorschläge zunächst auch meilenweit auseinander, und es dauerte viele Monate, bis 1975 in Helsinki eine Einigung über die Schlussakte verkündet werden konnte. In diesem Geiste ist die Bundesregierung und ist das gesamte Bündnis gut beraten, wenn wir Verhandlungen nicht etwa ablehnen, sondern auf die russischen Petita mit konkreten Gegenvorschlägen reagieren und uns bereit erklären, etwa im Rahmen der OSZE, einen diplomatischen Verhandlungsprozess zu initiieren.

Was könnten Elemente westlicher Gegenvorschläge sein?

Hier seien nur beispielhaft einige denkbare Punkte genannt:

  • Bekräftigung beziehungsweise Erneuerung der Helsinki-Schlussakte (1975) und der Charta von Paris (1990) einschließlich des Prinzips freier Bündniswahl
  • Bekräftigung der NATO-Russland-Grundakte von 1997
  • Bekräftigung des Inhalts des Budapester Memorandum von 1994
  • 2023 – 50 Jahre Jubiläum des Helsinki-Prozesses: Treffen der OSZE-Staats- und Regierungschefs, wie vom finnischen Präsidenten vorgeschlagen
  • Verhandlungen über nukleare Mittelstrecken- und Kurzstreckensysteme, einschließlich Forderungen nach Abzug russischer nuklearfähiger Iskander-Raketen in Kaliningrad
  • Wiederaufnahme von Verhandlungen über die Themen des KSE-Vertrags, also konventionelle militärische Fähigkeiten in Europa und dazugehörende vertrauensbildende Maßnahmen
  • Forderung nach Abzug der russischen Militärpräsenz im Donbass, Transnistrien, Abchasien, Südossetien
  • Umfassende Bekräftigungen des „Wiener Dokuments” (Vertrauensbildung im Rahmen der OSZE)
  • Verhandlungen über gegenseitigen Verzicht von Cyberangriffen betreffend kritische Infrastruktur und militärisch relevante Einrichtungen
  • Umgehende Wiederingangsetzung des NATO-Russland-Rats als gemeinsames Krisenbewältigungszentrum

Angesichts der stolzen Geschichte deutscher Ostpolitik wäre es gut, wenn die Bundesregierung möglichst umgehend auf ein entsprechendes Verhandlungsangebot des Bündnisses hinwirkt und dazu begleitende bilaterale und multilaterale Gespräche mit Moskau initiiert, sowohl auf der Ebene des Bundeskanzlers und der Außen- und Verteidigungsministerinnen wie auch auf der Ebene diplomatischer Experten. Deutsche Ostpolitik war so erfolgreich, weil sie im Kern stille Diplomatie, nicht „public diplomacy” war. Auch daran kann angeknüpft werden, in engster Abstimmung im Bündnis und insbesondere mit den betroffenen östlichen Partnerstaaten. Vom russischen Bestreben, in erster Linie bilateral mit Washington zu verhandeln, dürfen wir uns nicht beirren lassen. Über europäische Sicherheit kann und wird nicht ohne uns, die Europäer, entschieden werden. Es muss eine zentrale Aufgabe deutscher Außenpolitik bleiben, auf einen Zustand hinzuwirken, bei dem wir tatsächlich sagen können, dass es nicht mehr um Sicherheit vor Russland, sondern um Sicherheit mit Russland geht. Eine sehr große Aufgabe liegt vor uns.

Dieser Text ist in einer gekürzten Fassung in der Süddeutschen Zeitung am 31. Dezember 2021 erschienen.