

"Westlessness" – Die Münchner Sicherheitskonferenz 2020
Vom 14. bis 16. Februar versammelte die 56. Münchner Sicherheitskonferenz zahlreiche internationale Entscheidungsträger und Sicherheitsexperten aus Politik, internationalen Organisationen, Wirtschaft und Zivilgesellschaft zur Diskussion über die größten Krisen und dringendsten Herausforderungen der internationalen Sicherheit. Im Fokus der diesjährigen Konferenz standen dabei das westliche Bündnis, liberale Werte und die Zukunft des Multilateralismus in Zeiten großer geopolitischer Umbrüche.
Die Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) 2020 hieß auch dieses Jahr eine große Zahl hochrangiger Entscheidungsträger willkommen, darunter mehr als 30 Staats- und Regierungschefs und fast 100 Minister. Zu den Teilnehmern zählten Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, die deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, US-Außenminister Mike Pompeo, der russische Außenminister Sergej Lawrow, Chinas Außenminister Wang Yi, die Direktorin des Internationalen Währungsfonds (IWF) Kristalina Georgiewa, der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell, die Generalsekretärin der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen (UNFCCC) Patricia Espinosa Cantellano, und Facebook-Gründer und CEO Mark Zuckerberg.
Debatten über den Zustand des "Westens"
Kernthema der diesjährigen Konferenz war der Zustand des Westens und das Gefühl einer zunehmenden "Westlosigkeit" ("Westlessness"). Der vom Munich Security Report 2020 geprägte Begriff beschreibt einen Westen, der im Inneren gespalten und von illiberalen Kräften getrieben ist, und dem sein weltpolitischer Gestaltungsanspruch immer stärker abhandenkommt. Der Begriff, vielfach aufgegriffen, wurde zum Gegenstand kontroverser Debatten. Vor allem die transatlantischen Partner waren über den Zustand des Westens und das Ausmaß seiner Krise dezidiert geteilter Meinung. So schienen europäische Teilnehmer die Ansicht des amerikanischen Außenministers Mike Pompeo nicht zu teilen, der die westlichen Werte auf dem Siegeszug sah und den Eindruck vermittelte, transatlantische Meinungsverschiedenheiten seien höchstens Frage von Nuancen. Aus den Reden vieler Europäer, darunter Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, sprach das Gegenteil: eine große Sorge über die Zerrissenheit des Westens und die Wahrnehmung, der Westen sei zunehmend weniger in der Lage, die internationale Ordnung zu prägen. Aber auch auf einem anderen Feld gingen die Meinungen auseinander: die Bedrohungswahrnehmung gegenüber China war bei den US-Vertretern deutlich ausgeprägter als unter den Europäern.
Der Westen reicht weit über Europa und die USA hinaus und auch Staaten jenseits des traditionellen Westens gelten als Wächter "westlicher" Werte.
Viele Teilnehmer äußerten zudem das Bedürfnis, den Westen nicht als geographisches Projekt, sondern als Wertegemeinschaft zu verstehen. Der Westen sei überall dort zu finden, wo Freiheitsrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gelebt werden. Damit reicht der Westen weit über Europa und die USA hinaus und auch Staaten jenseits des traditionellen Westens gelten als Wächter "westlicher" Werte. So argumentierten unter anderem die Außenministerin Südkoreas, Kang Kyung-wha, und der Außenminister Indiens, Subrahmanyam Jaishankar. Wenn mehr Menschen in Demokratien jenseits des traditionellen Westens leben, müssten Europa und die USA zudem deutlich stärker in Partnerschaften mit gleichgesinnten Ländern in aller Welt investieren.
Multilaterale und europäische Antworten auf globale Herausforderungen
Die Sorge über nationalistische Entwicklungen bewegte eine große Zahl an Konferenzteilnehmern. Wachsender Nationalismus, so ihr Argument, verhindere immer öfter, dass die internationale Gemeinschaft im Angesicht dringender Herausforderungen zusammensteht. Das Resultat beschrieb der Vorsitzende der MSC, Wolfgang Ischinger, in seiner Begrüßungsrede mit eindringlichen Worten: ein "unerträglicher Zustand globaler Unsicherheit." Nur in Zusammenarbeit könnte man Herausforderungen wie dem transnational organisierten Verbrechen oder Sicherheitskrisen, wie dem Ausbruch des neuen Coronavirus (COVID-19), effektiv begegnen. "Der Rückzug auf ein eng verstandenes nationales Interesse", so argumentierte deshalb Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, setze unser aller Zukunft aufs Spiel. Zahlreiche Teilnehmer, darunter der Premierminister der Niederlande, Mark Rutte, appellierten an die Anwesenden, die regelbasierte internationale Ordnung vehementer zu verteidigen, multilaterale Organisationen der Kompromissfindung zu stärken und eine Politik zu verfolgen, die menschliche Würde wieder ins Zentrum stellt.
Vor allem müsse Europa seine Rolle in der Welt stärken. Auf der Hauptbühne warben Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Bundespräsident eindringlich für das europäische Projekt. Und im Hauptsaal diskutierten Vertreter europäischer Staaten und der Europäischen Union darüber, wie Europa seine Bürger und Werte besser verteidigen und in der Welt aktiver für Stabilität und liberal-demokratische Werte eintreten kann. Dabei rückte auch die Rolle Deutschlands in den Blick. Sechs Jahre nachdem auf eben jener Bühne deutsche Vertreter ihr Land dazu aufgerufen hatten, mehr außenpolitische Verantwortung zu übernehmen, forderte die deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, diesen "Münchner Konsens der Worte" in einen "Münchner Konsens der Taten" zu verwandeln.
In München zeigte sich, dass das Thema Klimawandel mittlerweile fest im sicherheitspolitischen Diskurs verankert ist.
Auch der Klimawandel stand im Fokus der Konferenz. Das "bestimmende Thema unserer Zeit", wie Canadas Premierminister Justin Trudeau es nannte, zog sich durch annähernd jede Debatte. In München zeigte sich, dass das Thema Klimawandel – als Ergebnis jüngster Entwicklungen, die seine schädlichen Folgen in neuem Maße sichtbar und spürbar machten – mittlerweile fest im sicherheitspolitischen Diskurs verankert ist. Die gestiegene Bedrohungswahrnehmung zeigte sich auch in der Wortwahl der Teilnehmer – fossile Brennstoffe, so Jennifer Morgan, Chefin von Greenpeace International, seien "Massenvernichtungswaffen".
Zusätzlich zu den traditionelleren Formaten bot die MSC 2020 auch neue Formate wie Dinner und Gespräche mit Experten und Expertinnen an, die in vertraulicher Atmosphäre geführt wurden. Die MSC setzte auch ihre erfolgreiche Reihe interaktiver Diskussionen im Townhall-Format fort. Die Themen reichten von der Rolle von Frauen im Bereich Frieden und Sicherheit bis hin zu Updates über die Situation in Palästina und über den neuen Coronavirus. Darüber hinaus wurden die Debatten im MSC-Hauptprogramm von zahlreichen Nebenveranstaltungen begleitet. Dazu zählten auch mehrere vertrauliche MSC Roundtables, die sich mit MSC-Schwerpunktthemen wie Cybersicherheit, Gesundheitssicherheit und transnationale Bedrohungen beschäftigten.
Wir haben einige bemerkenswerte Dinge erreicht: Der Präsident von Aserbaidschan und der Premier von Armenien haben sich zum ersten Mal überhaupt in der Öffentlichkeit getroffen.Wolfgang Ischinger•Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz
In Zeiten wachsender Herausforderungen für multilaterale Zusammenarbeit bot die Münchner Sicherheitskonferenz aber auch ermutigende Beispiele erfolgreicher Diplomatie und des Dialogs. Bemüht, Differenzen abzubauen, diskutierten Armeniens Premierminister Nikol Paschinjan und der Präsident Aserbaidschans Ilcham Alijew offen die Animositäten zwischen ihren Ländern. Aus Anlass des 75. Geburtstags der Vereinten Nationen verlieh die MSC der Weltorganisation den Ewald-von-Kleist-Preis, der jährlich herausragende Beiträge zur internationalen Verständigung und Konfliktbewältigung ehrt. Damit honorierte die MSC die Verdienste der Vereinten Nationen für den Multilateralismus.