Luca Miehe

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Wie Europa Geopolitik ausblendet: Wege zu einer neuen Lastenteilung in Europas Nachbarschaft

Europas Handlungsdefizite in seiner Nachbarschaft lassen sich auf drei Punkte zuspitzen: begrenzte Kapazitäten, fehlende strategische Ausrichtung und mangelnde Einheit. Der Weg zu einer transatlantischen Zukunft beginnt jetzt.

Amerika mag zurück sein – aber wo ist eigentlich Europa? In den vergangenen Jahren zeigte sich Europa oftmals nicht in der Lage, willens oder einig genug, um auf Krisen und Herausforderungen in seiner Nachbarschaft angemessen zu reagieren. Von der Westsahara bis zum Jemen, vom Irak bis zur Ostukraine – es herrscht Unruhe unter Europas Nachbarn. Eingefrorene und aktive (internationalisierte) Konflikte, landesweite Mobilisierungswellen und demokratische Rückschritte sind Merkmale einer Region, die sich die EU in hoffnungsvoller Erwartung als ihren „Ring von Freunden“ vorgestellt hat.

Doch angesichts einer Vielzahl von Krisen hat die EU viele Gelegenheiten verpasst, ihre Bereitschaft zu zeigen, „die Sprache der Macht zu lernen“, wie es Europas Chefdiplomat Josep Borrell ausgedrückt hat. Gleichzeitig fehlte es den Mitgliedsstaaten oft an einer gemeinsamen strategischen Ausrichtung. Meinungsverschiedenheiten etwa zum libyschen Bürgerkrieg, dem israelisch-palästinensischen Konflikt oder der Nord-Stream-2-Pipeline haben die Fähigkeit Europas untergraben, eine sichtbare und glaubwürdige Rolle in seiner Nachbarschaft zu spielen. Militärische Eskalationen wie in Bergkarabach machten einmal mehr deutlich: Moskau hat im Konfliktmanagement oft das Sagen, während Europa auf den Zuschauerrängen sitzt.

Aus heutiger Sicht reichen die europäischen Verteidigungskapazitäten nicht aus, um größere Angriffe abzuwehren, wie Studien nahelegen. Daher sind die Europäer in erheblichem Maße von einem Amerika abhängig, das „aus dem Hintergrund führt“, und sie werden es auch auf absehbare Zeit bleiben. Die Covid-19-Pandemie erhöht zusätzlich den Druck auf die nationalen (Verteidigungs-)Haushalte, was kurz- und mittelfristig größere Investitionen verhindern dürfte. So wurde beispielsweise das für den Europäischen Verteidigungsfonds vorgesehene EU-Budget fast halbiert.

In dieser Gemengelage war das vergangene Jahr geprägt von abstrakten Debatten über Schlagworte wie „strategische Autonomie“. Anstelle der Verfolgung langfristiger Interessen dominieren politische Schnellschüsse. Doch ohne eine gemeinsame strategische Perspektive bleibt es für Europa schwer, seine unterschiedlichen Visionen in politisches Handeln zu übersetzen.

Die Hoffnungen auf eine rasche Besserung sind gedämpft. In Deutschland und Frankreich stehen im Herbst 2021 bzw. Frühjahr 2022 Wahlen an, der Brexit schürt weiterhin Unsicherheiten, und die Erholung nach der Pandemie steht erst am Anfang.  Die „Polypandemie“ ist auf vielen Ebenen noch nicht ausgestanden. Diese Gemengelage liefert die Zutaten für eine EU, die ihren Blick nach innen richtet. Aber im Gegensatz zu den USA oder anderen Staaten, die in ihrer Nachbarschaft aktiv sind, berührt die Fragilität in direkter Nähe zu Europa ihre ureigenen Interessen nach Sicherheit, nachhaltiger Entwicklung sowie stabilen Handelsströmen und einer gesicherten Energieversorgung.

Zwischen Konkurrenz und Freundschaft

Während Europa nach seinem „Strategischen Kompass“ sucht, erwartet Washington mehr von seinem transatlantischen Partner. Nach vier Jahren angespannter Beziehungen unterstrich der neu gewählte Präsident Biden bei der MSC Special Edition im Februar 2021 „das Ziel eines vereinten, freien und friedlichen Europas“ und nannte die Beistandsklausel der NATO einen „unerschütterlichen Schwur“. Zwar weht ein neuer Wind aus Washington, doch die Erwartungen an Europa bleiben gleich: Es soll mehr Verantwortung im Kontext einer neuen transatlantischen Arbeitsteilung übernehmen.

Die amerikanischen Erwartungen an Brüssel haben einen offenkundigen Ursprung. Der Wunsch nach einem Ende der „ewigen Kriege“ war eine Gemeinsamkeit unterschiedlicher US-Administrationen, egal ob Demokraten oder Republikaner. Inzwischen ist der Systemwettbewerb mit Peking zu einer strategischen Priorität Washingtons geworden. Während Truppenabzüge aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan dieser Logik folgen, setzen die USA ihr sicherheitspolitisches Engagement auf anderen, indirekteren Wegen fort, z.B. durch verstärkte Waffenexporte, den Einsatz von Drohnen sowie die Unterstützung von Stellvertreterkräften.

Zahlreiche Beispiele aus den letzten vier Jahren haben deutlich gemacht, dass die USA nicht nur die Abkehr von langwierigen Militäreinsätzen suchen, sondern sich unter der Trump-Präsidentschaft teilweise von ihrer bisherigen Rolle als wichtiger Konfliktmanager verabschiedet haben. Krisen in der Ukraine, Bergkarabach, Syrien oder Libyen blieben ohne handfeste diplomatische Führung aus Washington – und Europa konnte die Lücken nur teilweise füllen. Zwar haben die ersten 100 Tage von Präsident Biden eine Rückkehr der USA angedeutet. Jedoch wird von Europa erwartet, dass es „mehr die Lasten [seiner] eigenen Verteidigung übernimmt“, wie es der französische Präsident Macron auf der MSC Special Edition formulierte.

Europas Schwerfälligkeit und der Binnenfokus der Vereinigten Staaten während der Trump-Ära blieben nicht ohne Folgen: Regionale und internationale Spoiler füllten das hinterlassene Vakuum – mit nachhaltigen Folgen für den „Ring of Fire“ um Europa. Externe Akteure halten Konflikte am Köcheln, indem sie finanzielle Mittel, militärische Ausrüstung und Personal bereitstellen. Allein in Libyen, so ein Bericht des US-Afrika-Kommandos, gab es Ende 2020 rund „10.000 ausländische Söldner und Proxy-Kräfte“.

Russland und die Türkei haben Konflikte vom Südkaukasus bis zum Maghreb geprägt, während Regionalmächte wie u.a. Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Iran die Dynamiken in der MENA-Region ihrerseits beeinflussen wollen. Darüber hinaus bleibt der globale Aufstieg Chinas auch in Europas Nachbarschaft nicht unbemerkt, wo Peking in Bereichen wie Infrastrukturentwicklung, Investitionen in Konnektivität und Impfdiplomatie aktiv ist.

Der Weg zu einer transatlantischen Zukunft

Doch es gibt Hoffnung. Europa verfügt über Hebel, die es sinnvoll einsetzen kann. Als wirtschaftlicher Riese und größte Entwicklungshilfegeberin weltweit kann die EU ihr ganzes Gewicht in die Waagschale werfen, um ihre Interessen zu verfolgen. Der EU-Kommissar für Erweiterung und Europäische Nachbarschaftspolitik hat mit Blick auf die südlichen Nachbarn in aller Deutlichkeit festgestellt: „Wir sind die größten Handelspartner und Investoren, aber unsere Präsenz und Prioritäten werden nicht gesehen, gefühlt, beachtet und umgesetzt.“

Wie exklusive Umfragedaten des Zentrums für osteuropäische und internationale Studien (ZOiS) zeigen, kann europäisches Handeln sehr wohl spürbar sein. Sanktionen gegen belarussische Offizielle nach gefälschten Wahlen wurden von der Mehrheit der Belarussen begrüßt. Auch wenn der Einfluss Moskaus aktuell überwiegt, zeigt dies eins: Eine entschlossene europäische Außenpolitik, wie begrenzt auch immer, ist spürbar und wird sogar begrüßt.

Ein Europa, das „weltpolitikfähig“ ist, wird sich neu ausrichten müssen. Ohne Wege zu finden, die Kosten des Vetos zu erhöhen, wird das Uneinigkeitsdilemma Europas weiter bestehen. Das Ausloten flexibler Wege zu einem neuen Modus der Entscheidungsfindung und des kollektiven Handelns wird ein zentrales Gebot der Zukunft sein. Eine bessere Sichtbarkeit des europäischen Engagements ist von ebenso großer Bedeutung.

Eine transatlantische Neuausrichtung ist notwendig, bei der die USA und die EU zu einer „neuen Normalität“ der Zusammenarbeit finden. Die Partner müssen sich auf ein sicherheitspolitisches Umfeld einstellen, das von konkurrierenden Visionen regionaler und internationaler Ordnung geprägt ist. Europa auf die Herausforderungen in seiner Umgebung vorzubereiten und eine neue transatlantische Arbeitsteilung zu erarbeiten sind keine getrennten Vorhaben. Sie sind „zwei Seiten derselben Medaille“, wie die Außenminister Deutschlands und Frankreichs es formuliert haben. Abhängigkeiten, insbesondere im Bereich der kollektiven Verteidigung, werden bestehen bleiben. Aber Washington wird glaubwürdigere Signale erwarten, dass Europa fähig, willens und geeint genug ist, mehr Verantwortung zu übernehmen und die drängendsten Herausforderungen in seiner Nachbarschaft anzugehen.

Während die amerikanische Fixierung auf Asien zu einem dominierenden Thema in Wissenschaft und Politik geworden ist, wird Europas Nachbarschaft für die USA weiterhin von Bedeutung sein. Nicht zuletzt aufgrund des selbstbewussten Auftreten Russlands und Chinas Präsenz in Osteuropa und der MENA-Region wird die Region ein wichtiger Schauplatz für Washingtons Interessen bleiben. Der strategische Wettbewerb ist nicht auf den Indo-Pazifik beschränkt. Er findet direkt vor der Haustür der EU statt.

Dieser Blogbeitrag ist eine angepasste Version des Kapitels "European Neighborhood: Geopolitical Omission" aus dem Munich Security Report 2021.

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Luca Miehe

Researcher & Policy Advisor

Schwerpunktthemen: MENA Region (Schwerpunkt Nordafrika) Horn von Afrika, Human Security, Dezentraler Autoritarismus, Migrationspolitik

Luca Miehe ist Researcher bei der Münchner Sicherheitskonferenz. Er studierte Politikwissenschaft in Berlin und Kairo und war zuvor Forschungsassistent in der Forschungsgruppe Naher/Mittlerer Osten und Afrika bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Während seines Studiums sammelte er Arbeitserfahrung u.a. im Deutschen Bundestag, dem Auswärtigen Amt sowie der Internationalen Organisation für Migration. Neben Publikationen der MSC umfassten jüngere Veröffentlichungen Beiträge zu Algerien, Ägypten und dem Konflikt im Nilbecken.