Wolfgang Ischinger über Afghanistan
Meinungsbeitrag

Afghanistan, Europa und die Zukunft des Westens

Ein Meinungsbeitrag von Wolfgang Ischinger zur aktuellen Lage in Afghanistan und den Lehren, die sich daraus für den Westen ergeben.

Es ist vielfach beklagt worden, dass der Bundestagsvorwahlkampf bisher weitestgehend inhaltsleer verlaufen ist, und dass insbesondere die für unsere Zukunft wichtigen Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik so gut wie überhaupt nicht zur Sprache kamen. Jetzt hat allerdings das Empire massiv zurückgeschlagen: Der Siegeszug der Taliban in Afghanistan zwingt die Außenpolitik auf die Seite 1 der Zeitungen und in die Schlagzeilen der Nachrichtensendungen. Es wäre allerdings sehr schade, wenn die überfällige deutsche Debatte über die deutsche und europäische Rolle in der Weltpolitik nun zum Opfer gegenseitiger parteipolitischer Vorwürfe werden würde.

Vielmehr bietet der Fall Afghanistans an die Taliban, wenige Wochen vor dem 20. Jahrestag von 9/11, einige wichtige und notwendige Lehren über die Zukunft an.

Welche Lehren könnten das sein?

  1. Der weltpolitische Machtverlust des Westens setzt sich mit den Vorgängen in Afghanistan in dramatischer Weise fort. Die Münchner Sicherheitskonferenz hat vor einem Jahr den Begriff der „Westlessness“ geprägt, um die schwindende Fähigkeit der westlichen Gemeinschaft beim Namen zu nennen, eine regelbasierte internationale Ordnung zu bewahren. Wir dürfen uns nicht wundern, wenn das aktuelle Signal aus Kabul als Ermunterung all jener Kräfte nicht nur im Nahen und Mittleren Osten interpretiert werden wird, die das liberale internationale System aus religiösen, machtpolitischen oder anderen Gründen bis aufs Blut zu bekämpfen bereit sind.

  2. In einem früheren Stadium waren europäische Vertreter sehr wohl an Kontakten mit der Taliban-Führung beteiligt. Jetzt stellt sich heraus: Russland, China, aber natürlich auch die USA selbst sind längst im Gespräch mit den neuen Machthabern – bloß wir nicht!
    Aber noch schlimmer: Die einseitige Rückzugsankündigung von Donald Trump, die Präsident Biden – leider – nicht revidierte, war das Signal an die Taliban, dass schlichtes Abwarten zum Sieg führen würde. Der US-Unterhändler Khalilzad tut mir leid: Wer aus einer solchen Position der Schwäche verhandeln muss, hat schon verloren. Ist das vielleicht auch eine Lehre für die deutsche Außenpolitik bei anderen Themen?
  3. Der Fall Afghanistans an die Taliban untergräbt das gegenseitige Vertrauen der NATO-Bündnispartner, das in der Ära Trump ohnehin bereits massiv erschüttert worden ist. Die einseitige Rückzugsentscheidung der USA markiert auch das Ende unseres Vertrauens in die Maxime „in together – out together“. Können wir denn beim nächsten NATO-Militäreinsatz auf angemessene Konsultation zwischen den USA und europäischen Partnern vertrauen? Wieso wurde nach der Amtseinführung von Präsident Biden im Januar nicht ein NATO-Sondergipfel organisiert, der das weitere gemeinsame Vorgehen in Afghanistan definiert hätte, statt es nationalen Einzelentscheidungen zu überlassen? Es ist zu befürchten, dass NATO-Gegner und Pazifisten den aktuellen Vorgang ausschlachten werden, was der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland nur schaden könnte: Denn wir brauchen heute das nordatlantische Bündnis dringender als jemals in den letzten Jahrzehnten. Vor vier Jahren, im Mai 2017, konstatierte die Bundeskanzlerin: „Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei.“ Leider blieb es bei dieser Diagnose – strategische Therapievorschläge aus Berlin sind nicht bekannt geworden. 
  4. Ja: Wir befinden uns inmitten einer weltpolitischen Zeitenwende, in der sich außenpolitische Gewissheiten der Bundesrepublik Deutschland aufgelöst haben. Kennzeichnend dafür ist die Rückkehr zu rücksichtslos geführten Großmachtkonflikten, die sich über internationale Normen hinwegsetzen. Die USA sind heute weniger bereit, überproportionale Beiträge als Garant der internationalen Ordnung zu leisten. Schon bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 wurde das formuliert, was seither als „Münchner Konsens“ bekannt geworden ist: Deutschland solle und müsse „mehr Verantwortung“ übernehmen und sich „früher, entschiedener und substanzieller“ engagieren. Heute können wir feststellen, dass die deutsche Außenpolitik in der Tat begonnen hat, sich zu verändern, aber die Welt um uns herum verändert sich noch viel schneller. Wie kaum ein anderes Land hat Deutschland sich in der regelbasierten internationalen Ordnung eingerichtet und von dieser profitiert. Dementsprechend werden wir von den aktuellen Erosionsentscheidungen disproportional betroffen. Auf einen Punkt gebracht: Das bisherige Geschäftsmodell Deutschlands ist sicherheitspolitisch und außenwirtschaftspolitisch obsolet geworden. Wir stehen vor einer schicksalhaften Entscheidung: Entweder setzen wir uns für den „europäischen Imperativ“ ein, für eine handlungsfähigere EU. Oder Deutschland verzichtet auf die Gestaltung des Wandels, belässt es beim Status quo, und stellt sich darauf ein, dass wir und unsere EU-Partner international bestenfalls als Hilfsbremser in einem System gesehen werden, dass von anderen Mächten zu unserem Nachteil dominiert wird.

Was also ist nun zu tun, kurz- und mittelfristig? 

  • Die Handlungsfähigkeit der europäischen Union muss dringend gestärkt werden, damit wir unsere außen- und sicherheitspolitischen Interessen künftig selbst deutlicher markieren und verteidigen können. Es ist erfreulich, dass sich nicht nur die Bundeskanzlerin selbst, sondern zahlreiche Führungspersönlichkeiten aus verschiedenen Parteien für die schrittweise Einführung von qualifizierten Mehrheitsentscheidungen in der EU-Außenpolitik einsetzen. Bedauerlich ist freilich, dass derartigen Lippenbekenntnissen bis heute keine einzige konkrete Initiative der Bundesregierung in Brüssel gefolgt ist. Der Punkt ist gekommen, um jetzt Nägel mit Köpfen zu machen. Wenn Deutschland sich nicht aufraffen kann, hier die Initiative zu ergreifen, dürfen wir uns nicht wundern, wenn die Europäische Union als strategische Gestaltungsmacht weiter ausfällt. Die künftige Bundesregierung sollte deshalb den „europäischen Imperativ“ auf der außen- und europapolitischen Prioritätenliste als Maxime ganz nach oben setzen.
  • Außenpolitische Entscheidungskraft bedarf in einer durch vielfältige blutige Konflikte geprägten Welt auch der militärischen Unterfütterung. Die Unfähigkeit der aktuellen Groko, klare Entscheidungen zum Beispiel über militärische Drohnen, über die Erreichung des 2-Prozent-Ziels oder über die deutsche Mitwirkung an der nuklearen Teilhabe der Nato zu treffen, wirken wie aus der Zeit gefallen. Glauben wir denn, so ernst genommen zu werden? 
  • Äußerungen aus den Ressorts der Bundesregierung in den vergangenen Stunden und Tagen zur Entwicklung der Lage in Afghanistan und insbesondere zur Frage der Evakuierung von Deutschen sowie afghanischen Ortskräften und anderen schutzbedürftigen Personen zeigen in dramatischer Weise, wie sehr die deutsche Außenpolitik unter dem Fehlen eines systematisch arbeitenden und umfassend zuständigen Bundessicherheitsrats leidet. Es kann und darf nicht sein, dass in einer solchen Krisenlage die Ressorts der Bundesregierung mit dem Finger aufeinander zeigen und sich Verantwortlichkeiten gegenseitig zuzuschieben versuchen. Das ist ein Umgang mit außenpolitischer Verantwortung, der an Würdelosigkeit grenzt und es jedenfalls an Professionalität fehlen lässt. Schön, dass politische Führungspersönlichkeiten – von Armin Laschet über die FDP bis Annalena Baerbock – eine umfassende Reform und Zuständigkeitserweiterung des Bundessicherheitsrats in Richtung eines veritablen Nationalen Sicherheitsrats fordern. Es wäre nicht hinnehmbar, wenn dieses Ziel – genauso wie das Thema EU-Mehrheitsentscheidungen – nicht prominent in einem künftigen Koalitionsvertrag festgeschrieben werden würde.

Es war außenpolitisch mutig und richtig, dass Gerhard Schröder im Herbst 2001 im Zusammenhang mit der Entsendung deutscher Soldaten nach Afghanistan die Vertrauensfrage stellte. Damals ging es primär um die Zerschlagung von Al-Qaida, also dem für 9/11 verantwortlichen Terrornetzwerk. Es ist jetzt an der Zeit, kritisch zu reflektieren, ob die von der Bundesregierung nachgeschobenen Begründungen für den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr nicht stärker idealistischem Wunschdenken als realpolitischen, militärischen Notwendigkeiten entsprachen. Offenbar hat der Westen seine politische Strahl- und Gestaltungskraft nicht nur im Fall Irak, sondern auch im Fall Afghanistan krass überschätzt.

Wenn wir nicht noch mehr Westlessness ertragen wollen, müssen wir deshalb noch kritischer als in den 20 Jahren des Afghanistan-Einsatzes den Einsatz unserer Mittel, auch unserer militärischen Mittel, laufend daraufhin überprüfen, ob die angestrebte Zielsetzung überhaupt erreichbar ist. Noch mehr Westlessness werden wir allerdings produzieren, wenn sich in der Folge des aktuellen dramatischen Afghanistan-Vorgangs europäische und amerikanische Bündnispartner gegenseitig die Schuld zuschieben. Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr transatlantische gemeinsame Sicherheitspolitik – aber mit einer klaren und für 450 Millionen Europäer sprechenden europäischen Stimme, die sich nicht mehr unterbuttern lässt und die dafür notwendige politische Entscheidungskraft sowie die notwendigen militärischen Fähigkeiten bereithält.