Luca Miehe

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Damm-Dilemmata: Wie der Nilstreit Afrikas Energiewende prägen könnte

Der Konflikt um den Nilstaudamm ist mehr als ein regionaler Streit um Beton und Wasser. Sein Ausgang wird zukünftige grüne Projekte prägen – in Afrika und darüber hinaus. Was steht auf dem Spiel und was kann Europa tun?

Der Konflikt um den Grand Ethiopian Renaissance Dam (GERD) hat Anrainerstaaten, Regionalmächte und die internationale Gemeinschaft auf den Plan gerufen. Die Verhandlungen zwischen dem Sudan, Äthiopien und Ägypten stecken seit Jahren in einer Sackgasse. Die Versuche regionaler Institutionen und internationaler Vermittler haben noch keine greifbaren Ergebnisse gebracht. Nicht nur könnte der Konflikt erhebliche regionale Auswirkungen mit Folgen für Europa haben. Der GERD-Streit könnte auch zum Prüfstein für künftige Auseinandersetzungen um gemeinsame Ressourcen werden.

Im Mittelpunkt des Streits um den GERD stehen unterschiedliche Sichtweisen über die Nutzung und Verteilung des Nilwassers. Während Äthiopien auf seinem Recht beharrt, seine Ressourcen für die Wasserkrafterzeugung zu nutzen, ist Ägypten anfällig für Veränderungen der Nilwasserströme am Oberlauf des Flusses. Ägypten bezieht 90 Prozent seines Wasserbedarfs aus dem Nil. Hiervon stammt der Löwenanteil aus dem äthiopischen Hochland. Sudan ist nicht nur geografisch zwischen den zwei Regionalmächten gelegen, sondern hielt auch zu beiden Konfliktparteien die meiste Zeit eine Äquidistanz. Nach dem Scheitern mehrerer Verhandlungsrunden zwischen den drei Konfliktparteien schwenkte der Sudan jedoch um und warf sein diplomatisches Gewicht hinter Ägypten.

Da der Dammbau kurz vor dem Abschluss steht, ist nun das Fülltempo des riesigen Stausees ein umstrittenes Thema in den Gesprächen. Die Positionen gehen stark auseinander: Äthiopien strebt eine Füllung des Stausees innerhalb von vier bis sechs Jahren an, Ägypten pocht auf eine deutlich längere Füllphase von bis zu 21 Jahren. Vor dem Hintergrund stockender Verhandlungen begann Äthiopien im Sommer 2020 mit der Befüllung des gigantischen Stausees des GERD – ohne vorherige Absprache mit den anderen Parteien. Dieser Schritt löste in Kairo Besorgnis aus, da man befürchtete, die Füllung des Stausees könnte die verfügbare Wassermenge in Ägypten erheblich verringern. Im Juli 2021 wurde die zweite Phase der Befüllung abgeschlossen, wiederum ohne trilaterale Vereinbarung, zum Entrüsten der Konfliktparteien flussabwärts von Äthiopien. Berichte über eine verringerte Wassermenge im Sudan und in Ägypten deuten auf die unmittelbaren Auswirkungen des unkoordinierten Auffüllens des Stausees hin. Ägypten hat wiederholt seine Bereitschaft zu einem robusten Vorgehen in dem Konflikt signalisiert und in jüngster Zeit eine Reihe von Militärabkommen mit ostafrikanischen Staaten geschlossen. Während Experten die Glaubwürdigkeit der ägyptischen Machtprojektion in Frage gestellt haben, heizt sich der Konflikt weiter auf.

Was steht auf dem Spiel? Der GERD-Staudamm als Prüfstein

Der GERD-Streit birgt nicht nur große Risiken für jede der drei Konfliktparteien. Er gefährdet auch die Stabilität einer Region von mehr als 250 Millionen Menschen. Zu den mit dem GERD-Konflikt verbundenen Risiken gehören der Einsatz von Wasser als Konfliktmittel, d.h. das Zurückhalten oder exzessive Ablassen von Wasser zum Leidwesen der flussabwärts gelegenen Nachbarn. Ebenso drohen direkte militärische Konfrontationen oder Sabotageakte zwischen zwei der größten Militärmächte Afrikas. Der Konflikt ergänzt die zahlreichen miteinander verbundenen Konflikte am Horn von Afrika um eine weitere komplexe Ebene.  Spillover-Effekte sind wahrscheinlich. Darüber hinaus eröffnet der Nilstreit Großmächten die Möglichkeit, in der Region des Roten Meeres Fuß zu fassen – einem geopolitischen Brennpunkt und einer wichtigen globalen Handelsroute, die für den Zugang Europas zu den Weltmärkten von entscheidender Bedeutung ist.

Vor allem aber kann der GERD-Streit als Prüfstein für den Umgang mit künftigen grenzübergreifenden Ressourcenkonflikten gesehen werden. Angesichts des Klimawandels werden Staaten bei der Erzeugung erneuerbarer Energien zusammenarbeiten müssen, sei es in grenzüberschreitenden Gewässern oder bei dem Transport von Solarenergie über Landesgrenzen hinweg. Sollte Äthiopien ohne eine Einigung mit den Anrainerstaaten den Bau des Staudamms abschließen, den Stausee füllen und die volle Energieerzeugungskapazität erreichen, könnte dieser Fall anderen Akteuren signalisieren: Alleingänge sind eine gangbare Lösung. Ferner lässt sich dieses Beispiel auch auf andere Regionen übertragen, wie weiter unten gezeigt wird.

Geopolitische Folgen – Mächtige Allianzen

Andere Großmächte verfolgen den Nildamm-Konflikt mit Interesse. Sowohl Russland als auch China sind sehr zurückhaltend, wenn es darum geht, eine Lösung des GERD-Streits durch den VN-Sicherheitsrat herbeizuführen. Aufgrund eigener Auseinandersetzungen mit flussabwärtsgelegenen Nachbarländern dürfte ihr Interesse an einem Präzedenzfall begrenzt sein. Beide Länder haben die Verhandlungen genau beobachtet. Der russische Präsident Putin etwa signalisierte während des Russland-Afrika-Gipfels 2019 seine Bereitschaft, in dem Streit zu vermitteln – kurz bevor die Trump-Regierung ihren eigenen, letztlich erfolglosen Vermittlungsversuch startete.

China unterhält enge Beziehungen sowohl zu Kairo als auch zu Addis Abeba. Mit seiner Beteiligung am Bau und an der Finanzierung des GERD hat Peking einmal mehr seine hervorgehobene Rolle bei der Infrastrukturentwicklung auf dem afrikanischen Kontinent unterstrichen. Weiter flussabwärts haben sich die chinesisch-ägyptischen Beziehungen ebenfalls vertieft, nicht zuletzt im Hinblick auf den Bau der neuen ägyptischen Hauptstadt und die Erweiterung des Suezkanals. Die russischen Beziehungen sowohl zu Ägypten als auch zu Äthiopien sind nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht, sondern auch im Sicherheitsbereich von Bedeutung. Nach Angaben des SIPRI ist Russland der bei weitem größte Waffenimporteur für beide Hauptkonfliktparteien (siehe unten).

Die Region des Roten Meeres – das Horn von Afrika und die Golfmonarchien – ist zu einem geopolitischen Pulverfass geworden. Sie beherbergt nicht nur die erste Militärbasis Chinas im Ausland, sondern sie ist auch Schauplatz konkurrierender regionaler „Schwergewichte“ und eine lebenswichtige Arterie für den Welthandel. Aufgrund ihrer strategischen Lage, der hohen Dichte ausländischer Militärbasen (z.B. der ständigen Mitglieder des VN-Sicherheitsrats mit Ausnahme Russlands, Japan, Israel, der Türkei, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Italien, Spanien und Deutschland) sowie ihrer Rolle als Handelsknotenpunkt bezeichnete eine ExpertInnengruppe des US Institute of Peace die Region als „integralen Bestandteil und Bindeglied zwischen den Sicherheitssystemen des Nahen Ostens, des Indopazifiks und des Mittelmeerraums“. Es überrascht daher nicht, dass der Europäische Rat die Region im Mai 2021 zu einer „geostrategischen Priorität“ erklärt hat.

Mehr als ein Regionalkonflikt

Die Verteilung von Wasser liegt nicht nur an der Wurzel vieler Konflikte angesichts des Klimawandels. Wasser ist auch ein zentraler Pfeiler der erneuerbaren Energieerzeugung in Afrika im Speziellen sowie dem Übergang zu einer grünen Wirtschaft im Allgemeinen. Aktuell macht Wasserkraft den größten Anteil der erneuerbaren Energien in Kontinentalafrika aus. Dennoch werden derzeit weniger als 10 Prozent des afrikanischen Wasserkraftpotenzials erschlossen, was die erheblichen ungenutzten Möglichkeiten verdeutlicht. Äthiopiens Nildamm ist keine Ausnahme: Mit einer Kapazität von bis zu sechs Gigawatt wird der GERD voraussichtlich die Hälfte der 110 Millionen EinwohnerInnen Äthiopiens mit Strom versorgen, von denen derzeit 60 Prozent keinen Zugang zu Elektrizität haben. Nach seiner Fertigstellung wird er das größte Wasserkraftprojekt Afrikas und der siebtgrößte Staudamm der Welt sein.

Der GERD-Konflikt ist daher ein Paradebeispiel für die enge Verknüpfung von Konfliktmanagement und Nachhaltigkeit. Der Konflikt hat das Potenzial, ähnliche Projekte in dreierlei Hinsicht zu prägen: durch die Art der Konfliktbeilegung, die Rolle der regionalen Institutionen und den Inhalt des Abkommens selbst.

Erstens könnte die Art und Weise der Konfliktlösung – über den Verhandlungsweg oder Zwangsmaßnahmen – als Blaupause für künftige Streitigkeiten dienen. Wie der wissenschaftliche Dienst des US-Kongress im Jahr 2020 feststellte, „könnte das Scheitern eines Abkommens einen negativen Präzedenzfall für die grenzüberschreitende Wasserkooperation in einer Zeit wachsender globaler Sorgen über Klimawandel, Bevölkerungswachstum und Ressourcenknappheit schaffen“. Die bisherige Unfähigkeit einer Einigung auf dem Verhandlungsweg hat zu einseitigen Schritten, schwindendem Vertrauen und der Androhung militärischer Maßnahmen geführt. Darüber hinaus behindert der anhaltende Streit Investitionen, strategische Planung und Strukturreformen.

Zweitens könnte die Rolle regionaler Institutionen bei der Lösung aktueller Konflikte wie diesem ihren zukünftigen Handlungsspielraum bestimmen. Die Afrikanische Union (AU) oder die Intergovernmental Authority on Development (IGAD), die beide am Horn von Afrika angesiedelt sind, haben bisher keine nennenswerten Durchbrüche im GERD-Konflikt erzielen können – allerdings nicht aus Mangeln an Versuchen. Während sich die Rolle von IGAD in den vergangenen Jahren auf Gesprächsaufrufe beschränkte, unternahm die AU mehrere Vermittlungsinitiativen, die jedoch erfolglos blieben. ExpertInnen stellten fest, dass die Kontinentalorganisation „rechtliche und kapazitätsbezogene Probleme überwinden“ müsste, einschließlich der Formulierung einer Strategie zur Streitbeilegung für grenzüberschreitende Gewässer, um sich als neutraler Vermittler zu etablieren.

Drittens wird der Streit künftige Fälle im Hinblick auf die Rechte und Pflichten der Länder flussauf und -abwärts bei grenzüberschreitenden Hydroprojekten beeinflussen. Dies ist nicht drauf begrenzt, ob der Konflikt auf zivilem oder gewaltsamem Weg gelöst wird. Auch der Inhalt der Einigung wird zum Bezugspunkt werden. Hierzu gehören die Fragen, inwieweit ein Informationsaustausch institutionalisiert werden kann, ob das Abkommen verbindlichen Charakter haben wird, oder ob das Abkommen eine langfristige Einhaltung sicherstellen kann.

Diese drei Beobachtungen lassen sich auch auf andere Regionen übertragen. Der Sudan hat seine eigenen Hydroenergieprojekte am Nil, auch wenn sie derzeit aufgrund innenpolitischer Spannungen ins Stocken geraten sind, ebenso wie Uganda. Ein Blick über Afrika hinaus, z.B. auf den Konflikt um den Indus zwischen den zwei Atommächten Indien und Pakistan, den Streit um den Bau verschiedener Staudämme am Mekong oder die jüngste militärische Konfrontation zwischen Kirgistan und Tadschikistan um die gemeinsamen Wasserressourcen zeigt, dass der GERD-Konflikt kein Einzelfall ist. Sein Ausgang wird auf dem gesamten Kontinent und weit darüber hinaus genau beobachtet werden.  

Europäische Interessen und Initiativen – Auswege aus dem Damm-Dilemma

Der Nilstreit ist weit mehr als eine regionale Fehde um Stahl, Beton und Wasser. Er ist zwar nur einer von vielen Konflikten am Horn von Afrika, aber sein transnationaler Charakter, die Beteiligung von Regionalmächten und das langjährige Engagement internationaler Akteure gibt ihm eine besondere Wichtigkeit. Wie gezeigt wurde, hat sein weiterer Verlauf das Potenzial, die Rolle der regionalen Institutionen Afrikas beim Konfliktmanagement zu prägen und zu einem Bezugspunkt für künftige Wasserkraftprojekte werden – ein entscheidender Pfeiler für die Green Transition in Afrika und darüber hinaus. Sollte der Streit auf dem Verhandlungsweg unter starker Beteiligung der AU oder der IGAD beigelegt werden und sich das Abkommen als tragfähig erweisen, könnte der Nildamm-Konflikt noch zu einer positiven Blaupause für andere Konflikte um die transnationale Ressourcenteilung werden.

Deutschland, die EU und die USA haben ein starkes Interesse am Horn von Afrika und setzen sich aktiv für eine friedliche Lösung des GERD-Konflikts ein. Im Mai 2021 kam der Europäische Rat zu dem Schluss, dass eine „Verhandlungslösung für den Streit um den [GERD] in hohem Maße zur Stabilität der Region und zur nachhaltigen Entwicklung in den drei betroffenen Ländern beitragen würde“. Einen Monat später unterstrichen die EU und die USA in einer gemeinsamen Erklärung zu Äthiopien ihr kollektives Engagement für „nachhaltiges und gerechtes Wirtschaftswachstum und Wohlstand“. Dies zeigt, dass hochrangige EntscheidungsträgerInnen von beiden Seiten des Atlantiks bereit sind, gemeinsam die Probleme am Horn von Afrika in Wohlstand umzuwandeln und das enorme Potenzial der konfliktgeplagten Region zu nutzen.

Es gibt drei konkrete Handlungsfelder, in denen Europa die negativen Auswirkungen des Konflikts abfedern kann:

Mediation: In enger Absprache mit Washington sollte Europa seine Rolle als vertrauenswürdige Vermittlerin nutzen und deutlich machen, dass es keine militärische Lösung des Konflikts gibt. Eine Beilegung des Konflikts auf dem Verhandlungsweg wird künftige Auseinandersetzungen wie den Nilstaudamm-Konflikt prägen und würde das europäische Bekenntnis zum Multilateralismus unterstreichen.

Institutionen: Die Stärkung von Institutionen wie der IGAD und der AU steht im Einklang mit dem Grundsatz „Afrikanische Lösungen für afrikanische Probleme“. Deutschland und Europa haben die regionale Integration des Kontinents stets mit Nachdruck unterstützt. Dieses Engagement muss angesichts dieser Krise durch das Angebot von Kapazitäten und Vermittlungsunterstützung erneuert werden.

Investment: Europa sollte seine Unterstützung für die Energiewende in der Region verstärken. Investitionen in die Stromnetze am Horn von Afrika sind nur ein Beispiel für ein mögliches Engagement. Indem es seine Bereitschaft zeigt, die Weiterentwicklung im Infrastrukturbereich zu unterstützen und den Zugang zu den internationalen Kapitalmärkten durch Schuldenerlass zu erleichtern, kann Europa beweisen, dass es ein glaubwürdiger Konkurrent für die chinesischen Vorstöße auf dem Kontinent sein will.

Der Konflikt um den Nilstaudamm ist weder ein Einzelfall noch eine rein rechtlich-technische Auseinandersetzung. Sein weiterer Verlauf wird mit Blick auf die Art der Konfliktbearbeitung, der Rolle regionale Organisationen und der konkreten vereinbarten Mechanismen als Blaupause für künftige Fälle dienen. Wichtiger noch: es wird nicht der letzte Fall seiner Art sein. Wie die VN-Untergeneralsekretärin Rosemary DiCarlo feststellte: „[...] der Klimawandel wird in Verbindung mit dem prognostizierten Bevölkerungswachstum und den sozioökonomischen Veränderungen die Herausforderungen für das Wassermanagement weltweit erhöhen, nicht nur für die Anrainerstaaten des Blauen Nils.“

Über den Autor

Luca Miehe

Luca Miehe

Researcher & Policy Advisor

Schwerpunktthemen: MENA Region (Schwerpunkt Nordafrika), Horn von Afrika, Human Security, Dezentraler Autoritarismus, Migrationspolitik

Luca Miehe ist Researcher & Policy Advisor bei der Münchner Sicherheitskonferenz. Er studierte Politikwissenschaft in Berlin und Kairo und war zuvor Forschungsassistent in der Forschungsgruppe Naher/Mittlerer Osten und Afrika bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Während seines Studiums sammelte er Arbeitserfahrung u.a. im Deutschen Bundestag, dem Auswärtigen Amt sowie der Internationalen Organisation für Migration. Neben Publikationen der MSC umfassten jüngere Veröffentlichungen Beiträge zu Algerien, Ägypten und dem Konflikt im Nilbecken.