Meinungsbeitrag

Freiheit muss besser gerüstet sein als Tyrannei – Meinungsbeitrag von Christoph Heusgen und vier weiteren Experten zum Ukraine-Krieg

Ein Meinungsbeitrag von Stéphane Abrial, Christoph Heusgen, Jim Jones, Simon McDonald und Stefano Stefanini.

Dieser Artikel erschien auf Deutsch (Tagesspiegel), Englisch (The Guardian), Französisch (Le Monde) und Italienisch (La Stampa).

Als Wladimir Putin seinen Truppen den Befehl zum Einmarsch in die Ukraine erteilte, beging er einen eklatanten Bruch des Völkerrechts und der Charta der Vereinten Nationen. Er leugnete das Existenzrecht der Ukraine und setzte massive Gewalt ein, um das Land von der Landkarte Europas zu löschen. Die Spur schlimmster Menschenrechts- und Kriegsverbrechen wird immer breiter. Auch über ein Jahr nach dem Angriff hat Putin das Ziel, die Ukraine einzunehmen, nicht aufgegeben. Nach wie vor scheint er zu glauben, dass er über ein stärkeres Durchhaltevermögen als die Ukraine und die sie unterstützende internationale Koalition verfügt.

Sollte er darin Recht bekommen und der Krieg mit einem Sieg Russlands enden, wird Putin zweifelsohne seinen Blick auf die Republik Moldau und möglicherweise die baltischen Staaten richten und damit das Risiko einer direkten Konfrontation zwischen Russland und der NATO erhöhen. Ein russischer Sieg in der Ukraine würde die regelbasierte internationale Ordnung und die fundamentalen Prinzipien der territorialen Integrität und nationalen Souveränität unterminieren und einen gefährlichen Präzedenzfall für territoriale Eroberungen andernorts schaffen.

Umgekehrt, sollten die Länder, die die Ukraine unterstützen, die richtige Strategie wählen und sie standhaft umsetzen, wird Putin scheitern. Er unterschätzt die Stärke der Freiheit völlig. Putin sieht sich mit dem mutigen Widerstand pro-demokratischer Kräfte konfrontiert: in der Ukraine natürlich, aber auch in Weißrussland, Moldau, Georgien, Armenien, Aserbeidschan, Zentralasien und sogar in seinem eigenen Land. Die NATO ist geeinter und stärker als vor dem Konflikt; das Gleiche gilt für die EU. Russische Verbündete wie Iran und Nordkorea sind politisch und militärisch schwächer; China ist nicht willens, Putins Kriegsziele voll zu unterstützen. Freiheit übt eine stärkere Anziehungskraft aus als Tyrannei. 

Aber der Sieg ist nicht vorprogrammiert. Freiheit muss verteidigt werden; die ukrainischen Freiheitskämpfer müssen mit allen Mitteln unterstützt werden – einschließlich militärischen. Auf der diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz haben Politiker von beiden Seiten des Atlantiks versichert, dass die Ukraine „den Krieg gewinnen muss”. Aber das Verkünden unerschütterlicher Unterstützung allein reicht nicht aus – und die Taten entsprechen noch nicht den Worten. Das gegenwärtige Niveau schrittweiser und zögerlicher militärischer Unterstützung wird nur ein Patt auf dem Schlachtfeld bewirken. 

Putin hat alle Aspekte des Kriegs falsch eingeschätzt, als er im letzten Jahr die Invasion der Ukraine einleitete. Er glaubte, seine Armee sei stark, China zu hundert Prozent hinter ihm, die Ukraine schwach und der Westen gespalten. Er hätte sich nicht mehr täuschen können. Jetzt ist seine einzige Hoffnung, dass seine Entschlossenheit stärker ist als die seiner Gegner und er einen Zermürbungskrieg gewinnen kann. Wir müssen ihm erneut beweisen, dass er falsch liegt! 

Wir müssen in unserer Hilfe für die Ukraine aufs Ganze gehen. Die Koalition der die Ukraine unterstützenden Staaten ist beeindruckende Schritte gegangen, aber jetzt ist nicht der Zeitpunkt für Selbstzufriedenheit. Wir müssen der Ukraine die Waffen und die Munition liefern, die sie braucht, um Russlands Angriffskrieg zurückzuschlagen. Je schneller Putin versteht, dass er seine Ziele in der Ukraine nicht erreichen wird, je eher kann Frieden erzielt und das Leiden des ukrainischen Volkes beendet werden. Die Ukraine braucht Panzer, Raketen längerer Reichweite und Kampfflugzeuge, um im Verbund dieser Waffensysteme eine erfolgreiche Gegenoffensive zu unternehmen, die den Weg frei macht zu einem ukrainischen Sieg und erfolgreichen Verhandlungen für einen Frieden zu akzeptablen Bedingungen. 

Wenn wir über mögliche Friedensverhandlungen reden, sollten wir hinsichtlich der Rolle Chinas misstrauisch sein. China unterstützt bereits Putins Kriegsbemühungen, indem es ihm nicht-tödliche Rüstungsgüter liefert und Nordkoreas Waffenlieferungen an Russland zulässt. John McCains 2014 getroffene Vorhersage, dass Russland China als Tankstelle dienen wird, trifft immer mehr zu. Während des kürzlichen Besuchs von Xi Jinping in Moskau erweckte Russland den Eindruck, dass es sich mit der Rolle des Juniorpartners Chinas zufrieden gibt. Aber wir sollten uns keinen Illusionen hingeben: Xi, der Demokratie ablehnt und eine offene Gesellschaft in Russland als Bedrohung empfinden würde, hat alles Interesse daran, Putin an der Macht zu halten. 

Um uns Moskau und Peking entgegenzustellen, müssen wir sehr viel aktiver außerhalb der transatlantischen Gemeinschaft sein. In vielen Teilen der Welt verfangen die russischen und chinesischen Narrative, wonach die NATO für den Krieg in der Ukraine verantwortlich und die Außenpolitik der USA und ihrer europäischen Verbündeten von neokolonialistischen Praktiken und Doppelmoral geprägt ist. Einzelaktionen reichen da nicht aus. Wir müssen stattdessen das Scheinwerferlicht auf Russlands und Chinas aggressive Außenpolitik werfen und an unseren Partnerschaften mit Ländern in Afrika, Lateinamerika und Asien arbeiten – indem wir uns kontinuierlich engagieren, Fehler der Vergangenheit aufarbeiten und unsere Versprechungen erfüllen, einschließlich bei der Klimafinanzierung und der Reform internationaler Organisationen. 

Seit dem Ende des Kalten Krieges sind viele unserer Regierungsbehörden nicht mehr strategisch aufgestellt. Um in diesen Zeiten zunehmender geopolitischer Spannungen erfolgreich zu bestehen, müssen wir unsere Außenministerien sowie unsere Entwicklungshilfe- und Handelsbehörden reformieren und ihre Bemühungen besser aufeinander abstimmen.

Wenn die Abschreckungspolitik und – wenn notwendig – Verteidigung der Demokratien dieser Welt gegen Russland und China erfolgreich sein soll, dann müssen besonders die großen Volkswirtschaften einen fairen Anteil dazu beitragen. Es ist nicht länger akzeptabel, dass Deutschland und Italien keine zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung ausgeben; der Haushalt 2024 wird in dieser Hinsicht ein Lackmustest sein. In Frankreich muss die Rüstungsindustrie die von der Regierung geforderte Ausrichtung auf eine “Kriegswirtschaft” ernsthaft verfolgen. Auf ähnliche Weise muss Europa endlich mit dem seit Jahrzehnten gegebenen Versprechen einer Stärkung der europäischen Verteidigungsfähigkeiten ernst machen. Jüngste Schritte, wie die Verabschiedung des Strategischen Kompasses der EU oder die gemeinsame europäische militärische Unterstützung der Ukraine, weisen in die richtige Richtung, aber es muss noch mehr kommen! Ein stärkerer europäischer Beitrag ist auch erforderlich, um die überparteiliche Unterstützung in den USA für die Ukraine zu bewahren. Putin setzt auf eine „Ukraine-Müdigkeit” in den Vereinigten Staaten, das Gegenteil muss bewiesen werden!

Auf der Wirtschaftsseite haben die EU, die USA und ihre internationalen Partner mit beispielloser Geschwindigkeit weitreichende Sanktionen umgesetzt, durch die das russische Militär und die russische Wirtschaft erheblich geschwächt wurden. Das Vereinigte Königreich als ein globales Finanzzentrum muss jedoch bei der Sanktionsumsetzung mehr machen und die Löcher im aktuellen Sanktionsregime schließen. Italien kann durch die Förderung des Gasflusses von Süden nach Norden, ausgehend von verschiedenen Lieferanten rund um das Mittelmeer, dazu beitragen, europäische Energiesicherheit zu verbessern und die Konsequenzen des russischen Energiekriegs abzumildern.

Putin hat die Invasion in dem falschen Glauben begonnen, dass die Ukraine binnen weniger Wochen besiegt sein würde. Über ein Jahr später hat die Geschlossenheit und Widerstandskraft der Ukraine im Angesicht der russischen Aggression die bemerkenswerte Stärke des Landes demonstriert. Anstatt ein Imperium zu regieren, wurde Putin zu einem international Geächteten, der sich mit einem Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs konfrontiert sieht. Um den Kampf für die Freiheit fortzusetzen und den Sieg über Putin zu erzielen, benötigt die Ukraine allerdings mehr Unterstützung. Die Partner der Ukraine müssen ihre Bemühungen intensivieren. Wenn Freiheit besser gerüstet ist als Tyrannei, ist der Sieg sicher.

Über die Autoren

Stéphane Abrial ist ehemaliger NATO Oberbefehlshaber Transformation, ehemaliger Inspekteur der französischen Luftwaffe und ehemaliger Leiter des Militärstabs von Premierminister Raffarin.

Christoph Heusgen ist Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz, ehemaliger deutscher VN-Botschafter und ehemaliger außenpolitischer Berater von Bundeskanzlerin Merkel.

Jim Jones ist ehemaliger Nationaler Sicherheitsberater von Präsident Obama, ehemaliger Oberbefehlshaber der NATO in Europa und Ehrenvorsitzender des Atlantic Council.

Simon McDonald ist Master am Christ‘s College Cambridge, ehemaliger Staatssekretär im britischen Außenministerium, ehemaliger Botschafter in Deutschland und ehemaliger außenpolitischer Berater von Premierminister Brown.

Stefano Stefanini ist Senior Fellow beim Atlantic Council, ELN-Vorstandsmitglied, Senior Advisor beim ISPI und ehemaliger Ständiger Vertreter Italiens bei der NATO sowie außenpolitischer Berater von Präsident Giorgio Napolitano.