

Rückblick auf die MSC 2022: Verteidigung
Vom 18. bis 20. Februar trafen sich Staats- und Regierungschefs sowie EntscheidungsträgerInnen aus aller Welt zur 58. Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) im Hotel Bayerischer Hof. Während die Diskussionen von der aktuellen Krise mit Russland und ihren Konsequenzen für die europäische Sicherheitsordnung überschattet wurden, schienen andere Herausforderungen in den Hintergrund zu treten. Dennoch wurden ebenso längerfristige Herausforderungen, wie die Nuklearstrategie der NATO, Rüstungskontrolle und der strategische Kompass der Europäischen Union diskutiert.
Wenig überraschend wurden die Diskussionen zu Fragen der Verteidigung auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2022 von insbesondere einem Thema beherrscht: der sich aufheizenden Ukraine-Krise und ihren Konsequenzen für die europäische Sicherheitsordnung. Neben Warnungen über eine Eskalation der Krise wurden ebenso vorsichtige Hoffnungen geäußert, das Schlimmste noch abwenden zu können. Gleichzeitig versicherten die Staats- und Regierungschefs, im Ernstfall vorbereitet zu sein und geeint reagieren zu können, wie Kamala Harris, Vizepräsidentin der Vereinigten Staaten, erklärte: "Wir haben mit vielen von Ihnen im Raum zusammen intensiv daran gearbeitet, sicherzustellen, dass wir mit Konsequenzen reagieren können. Wir haben gemeinsam wirtschaftliche Maßnahmen vorbereitet, die schnell, schwerwiegend und einheitlich sein werden." Nichtsdestotrotz, nur wenige Tage nach der Münchner Sicherheitskonferenz begann Russland nun eine großangelegte Invasion in die Ukraine. Laut dem hohen Vertreter der EU, Josep Borrell, seien dies nun "mit die dunkelsten Stunden für Europa seit dem Ende des zweiten Weltkriegs."
Die Grundlage der europäischen Sicherheit ist in der Ukraine unter direkter Bedrohung.Kamala D. Harris•Vizepräsidentin der Vereinigte Staaten von Amerika
Nicht ohne Grund wurde dieser gegenwärtig akuten Krise, welche unmittelbare Reaktionen erfordert, auf der Konferenz viel Aufmerksamkeit gewidmet. Der Krieg in der Ukraine birgt die Gefahr, die europäische Sicherheitsordnung erheblich zu verändern. Dies ist jedoch auch bezeichnend für die strategische Position, in welcher sich die transatlantischen Partner seit langem befinden: einer Position, in der sie gezwungen sind, reaktiv zu handeln. Während ihre Aufmerksamkeit von unmittelbaren Krisen eingenommen wird, sollten die USA und Europa die langfristigen Herausforderungen nicht aus den Augen verlieren und die Entwicklung langfristiger Sicherheitsstrategien nicht vernachlässigen. Die Ukraine-Krise ist akut, jedoch müssen sich die transatlantischen Partner darauf einstellen, dass der Konflikt lange andauern und die Zukunft durch ein konfrontatives Miteinander mit Russland geprägt sein wird.
Die USA und Europa scheinen sich hingegen mit der Entwicklung langfristiger Sicherheitsstrategien schwer zu tun. Im vergangenen Sommer zogen sich die europäischen und US-amerikanischen Streitkräfte nach dem zwanzigjährigen Engagement in Afghanistan auf eine chaotische Weise zurück. Der Grund, so US-Kongressabgeordnete Elissa Slotkin auf der MSC 2022: "Wir hatten nie einen Zwanzigjahresplan, sondern zwanzig Einjahrespläne." In ähnlicher Weise stoppte Deutschland nun das deutsch-russische Gasprojekt Nordstream 2, nachdem jahrelang in dieses Projekt investiert wurde. Langfristige geopolitische Strategien scheinen im Westen heutzutage eine Seltenheit zu sein.
Wir hatten nie einen Zwanzigjahresplan, sondern zwanzig Einjahrespläne.Elissa Slotkin•Abgeordnete des House Committee on Armed Services, Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten
Auf der MSC 2022 wurde deutlich, dass die transatlantischen Partner, wenn sie die geopolitische Initiative zurückgewinnen wollten, langfristige Herausforderungen proaktiv angehen müssen, noch bevor sich diese als unmittelbare Krisen manifestieren. Mehrere dieser langfristigen Herausforderungen wurden auf der Konferenz in unterschiedlichen Foren erörtert; dennoch spielte Russland auch in diesen Debatten eine bedeutsame Rolle.
Das strategische Konzept der NATO und nukleare Sicherheit
Bezüglich nuklearer Sicherheit muss sich die NATO langfristig mit der massiven Ausweitung des chinesischen Atomwaffenarsenals sowie mit Russlands Überlegenheit in der Integration nuklearer und konventioneller Waffenarsenale auseinandersetzen. Dies wurde insbesondere während einer Roundtable-Diskussion zu nuklearer Sicherheit als auch während eines NATO-Lunch-Events zum neuen strategischen Konzept erörtert. Darüber hinaus wurde die skeptische Haltung gegenüber Kernwaffen in den Bevölkerungen der NATO-Staaten als eine Herausforderung diskutiert, welche die NATO durch eine bessere Vermittlung des Zwecks von nuklearer Abschreckung begegnen muss. Durch die Entwicklung langfristiger Strategien für diese Fragen kann die NATO sicherstellen, dass sie, im Fall einer neuen akuten Sicherheitskrise, dieser mit einer klaren und durchdachen nuklearen Strategie begegnet. Das neue strategische Konzept der NATO kann als Grundlage für solch eine neue Strategie dienen.
Rüstungskontrolle und strategische Stabilität
Die Diskussionen über strategische Stabilität und die Zukunft der Rüstungskontrolle wurden auch von der Ukraine-Krise und ihren Auswirkungen auf die europäische Sicherheitsordnung überschattet. Die eskalierenden Ost-West-Spannungen verdeutlichen die Wichtigkeit der Fortsetzung der Verhandlungen zur zukünftigen Rüstungskontrolle zwischen den USA und Russland, jedoch werden sie dadurch gleichzeitig immer schwieriger. Die europäische Sicherheitsordnung ist seit Jahren nicht mehr durch Stabilität gekennzeichnet. Mit der Erosion zentraler Dokumente, wie des INF-Vertrags (Intermediate Range-Nuclear Forces) von 1987 und des einzigen verbliebenen Vertrags zur Begrenzung der Nuklearwaffenarsenale der USA und Russlands, des Vertrags zur Verringerung der strategischen Nuklearwaffen (Strategic Arms Reduction Treaty) von 2010, der nur zwei Tage vor seinem Auslaufen verlängert wurde, gibt es derzeit nur noch wenig, was die strategische Stabilität regelt. Betrachtet man die Wiederbelebung der Rüstungskontrolle aus einer langfristigen Perspektive, so zeigten die Diskussionen auf der MSC 2022, dass es nicht nur darum geht, die Anzahl der Mittel- und Kurzstreckenraketen in den Arsenalen der USA und Russlands zu begrenzen. Es geht auch darum, welche zusätzlichen Waffen, welche Staaten und sogar nichtstaatlichen Akteure in mögliche neue Verträge einbezogen werden sollten und welche Art von Verbindlichkeit ein neues Instrument haben sollte. In dieser Hinsicht stellen die Integration konventioneller und nuklearer Arsenale, neue Kriegstechnologien, wie Hyperschall-Gleitflugkörper, sowie vor allem neue Möglichkeiten durch Cyber-Maßnahmen die Art und Weise, wie die internationale Gemeinschaft jahrzehntelang an die Rüstungskontrolle herangegangen ist, vor Herausforderungen. Die Tatsache, dass China in den letzten Jahren sein Nukleararsenal drastisch aufgestockt und neue Waffen entwickelt hat, zeigt die Notwendigkeit, China in die Verhandlungen zur Rüstungskontrolle einzubeziehen.
Der strategische Kompass der EU und die Zukunft der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik
Während der Diskussionen über die Zukunft der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik wies der Hohe Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, darauf hin, dass wir "kurzfristig unsere Unterstützung [für] die Ukraine erhöhen und die Grundlage für eine stärkere Sicherheits- und Verteidigungspolitik schaffen müssen." Er fügte hinzu, dass die Europäische Union ein klares Verständnis der mittel- und langfristigen Herausforderungen und deren Bewältigung benötige, welches durch den neuen Strategischen Kompass vermittelt würde. Damit machte Josep Borrell deutlich, dass das Reagieren auf akute Krisen nicht im Widerspruch dazu steht, eine weitsichtige Perspektive einzunehmen und langfristige Herausforderungen nicht auf die lange Bank zu schieben. Die anschließende Diskussion machte deutlich: Neben den eskalierenden Ost-West-Spannungen, aber auch anderen akuten Krisen wie in der Sahelzone, sollte die EU Herausforderungen wie hybride und Cyber-Angriffe, geopolitische Konfrontationen mit China, die Verhinderung des Abgleitens der europäischen Nachbarländer in den Autoritarismus und das technologische Wettrüsten nicht aus den Augen verlieren. Sie sollte sich darauf konzentrieren, die Resilienz der EU sowie die europäischen militärischen Kapazitäten und die Interoperabilität zu stärken, um sicherzustellen, dass Europa in der Lage ist, den Krisen und Bedrohungen gemeinsam zu begegnen, auch in Zusammenarbeit mit der NATO.
Wir müssen vermeiden, in die Defensive zu gehen [...]. Wir müssen uns auf das 21. Jahrhundert zubewegen und die Fehler des 20. Jahrhunderts vermeiden.Josep Borrell Fontelles•Hoher Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik und Vizepräsident der Europäischen Kommission, Europäische Union
Handlungsspielraum
Um einen Weg aus ihrer reaktiven Position zu finden, müssen die transatlantischen Partner langfristige Strategien für langfristige Probleme entwickeln. Dafür müssen mehrere Herausforderungen bewältigt werden: Die USA und die europäischen Staaten müssen ihre Bevölkerungen davon überzeugen, dass Sicherheitsfragen angegangen werden müssen, bevor sie sich zu unmittelbaren Sicherheitskrisen entwickeln. Nur dann können die transatlantischen Partner auf der globalen Bühne wieder die Initiative ergreifen und sich auf die Sicherheitsherausforderungen unserer Zeit vorbereiten. Wie Josep Borrell zu Recht sagte: "Wir müssen vermeiden, in die Defensive zu gehen [...]. Wir müssen uns auf das 21. Jahrhundert zubewegen und die Fehler des 20. Jahrhunderts vermeiden."
Über die AutorInnen
Isabell Kump

Isabell Kump
Policy Advisor
Schwerpunktthemen: Human Security, Globale Gesundheit, Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU, Verteidigung
Isabell Kump ist Policy Advisor bei der Münchner Sicherheitskonferenz (MSC). Bevor sie zur MSC kam, war sie Forschungsassistentin in der Forschungsgruppe Globale Fragen bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin und Programm-Officer bei der SWP in Brüssel. Sie studierte Soziologie und Politikwissenschaft in Erlangen-Nürnberg, Münster und Östersund. Während ihres Studiums sammelte sie Berufserfahrung u.a. in verschiedenen Instituten für Sozialforschung und Politikberatung sowie im Brüsseler Büro der SWP. Neben ihrer Arbeit bei der MSC hat sie kürzlich einen Artikel über das Framing von Gesundheit im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen veröffentlicht.
Jintro Pauly

Jintro Pauly
Junior Policy Advisor
Schwerpunktthemen: Verteidigung, Technologie, EU-Außen- und Sicherheitspolitik
Jintro Pauly ist Junior Policy Advisor bei der Münchner Sicherheitskonferenz (MSC). Bevor er zur MSC kam, absolvierte er ein Praktikum im Büro der politischen Beraterin im NATO-Hauptquartier Joint Force Command Brunssum und war in seiner Heimatstadt Maastricht in den Niederlanden kommunalpolitisch aktiv. Er studierte Internationale Beziehungen (M.A.) an der Hertie School in Berlin, Öffentliche Verwaltung und Politikwissenschaft (M.Sc.) an der Radboud Universität in Nimwegen und Liberal Arts & Sciences (B.A.) an der Universität Maastricht.