

"Warum wir jetzt französische Abschreckung brauchen" — Meinungsbeitrag von Wolfgang Ischinger für Welt am Sonntag
Kann sich Deutschland auf einen französischen Nuklearschirm verlassen, wenn sich die USA aus Europa zurückziehen? Aber ja, sagt Wolfgang Ischinger – und erklärt, warum wir die Diskussion über eine „deutsche Atombombe“ beerdigen sollten.
Der von Wolfgang Ischinger verfasste Meinungsbeitrag ist ursprünglich in der Welt am Sonntag erschienen.
Herbst 1972. Im Strategie‐Seminar an der Harvard University diskutieren wir über Begriffe wie "counterforce" oder CEP (circular error probable). Damit ist die Wahrscheinlichkeit gemeint, dass ein nuklearer Sprengkopf nach einem ballistischen Flug über Tausende von Kilometer sein Ziel um nicht mehr als 500 Meter verfehlt. Je geringer der CEP, desto glaubwürdiger würde eine Abschreckung sein, die nicht wie in Hiroshima ganze Städte in Schutt und Asche legen würde, sondern gegnerische militärische Ziele präzise zerstören könnte.
An Universitäten im Nicht‐Nuklearland Deutschland waren solche Themen lange Zeit weitestgehend tabu. Vielleicht ist dies ein Grund, warum wir uns in der jetzt angestoßenen Debatte über das Angebot des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, den französischen Nuklearschirm stärker über die europäischen Partner zu erstrecken, so schwertun. Es fehlt weithin am Grundverständnis für die in der Tat sehr komplexen Zusammenhänge. Dazu folgende vier Punkte.
1. Die Option “deutsche Atomwaffe”
Diese Option gibt es nicht, und wir sollten die Diskussion darüber beerdigen, bevor sie Kreise zieht und völlig unnötige Ängste bei Dritten schürt. Deutschland hat zweimal völkerrechtlich verbindlich auf Kernwaffen verzichtet, 1975 im Nichtverbreitungsvertrag und erneut 1990 im 2‐plus‐4‐Vertrag. Die Zahl der mit Nuklearwaffen ausgerüsteten Staaten ist in diesen fünf Jahrzehnten nur unwesentlich gewachsen. Noch wichtiger: Die NATO selbst hat sich als ein überaus erfolgreiches Instrument der Nichtverbreitungspolitik erwiesen. Warum konnte zum Beispiel die Türkei bis heute darauf verzichten, eigene Nuklearwaffen zu entwickeln? Weil sie sich auf den Artikel 5 des NATO‐Vertrags berufen konnte. Heute fühlen sich Polen und die baltischen Staaten besonders bedroht. Nichts wäre aber schädlicher für das globale Nichtverbreitungsregime als ein Ausbrechen europäischer NATO‐Mitglieder. Es gäbe dann kein Halten mehr, weder in Teheran noch in Saudi‐Arabien noch sonst wo.
2. Die Rolle Frankreichs
Schon vor 50 Jahren, in der Erklärung von Ottawa 1974, hob die NATO den Beitrag von Frankreich und Großbritannien zur gemeinsamen Abschreckung des Bündnisses hervor. Es wäre heute durchaus an der Zeit, die europäischen Komponenten des Abschreckungsverbunds weiter zu stärken – wohlgemerkt nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung des bestehenden NATO‐Dispositivs.
Deshalb spricht alles dafür, dass Deutschland und andere Partner auf das französische Angebot eingehen, in Gespräche über künftige gemeinsame Optionen einzutreten. Das Argument, man riskiere mit einem solchen Schritt, Washington zu verärgern, ist ein Scheinargument: Natürlich kann man dem amerikanischen Partner vorab erläutern, dass mit solchen Überlegungen die europäischen Verteidigungsleistungen, so wie von Washington expressis verbis gewünscht, weiter gestärkt werden sollen.
Genauso abwegig ist das zweite Argument, Paris werde nicht bereit sein, die Einsatz‐Entscheidung über das französische Nuklearpotential zu teilen. 70 Jahre lang haben wir ohne Zögern akzeptiert, dass der amerikanische Präsident die alleinige Entscheidungsgewalt über den Einsatz sämtlicher US‐Nuklearwaffen hat, also auch der in Deutschland stationierten. Im Übrigen erfordert die Glaubwürdigkeit jeder nuklearen Abschreckung, dass die Einsatz‐Entscheidung in den Händen einer Person bleibt. Eine Entscheidung per Komitee wäre in der Krise kaum glaubwürdig.
3. Strategische und taktische Nuklearwaffen und ihre Bedeutung
Abschreckung als Kriegsverhinderung funktioniert dann, wenn der Gegner die Androhung des Einsatzes nuklearer Waffen für glaubwürdig hält. Die französische Nukleardoktrin setzt deshalb prinzipiell auf "strategische Ambiguität": den Gegner im Dunkeln lassen darüber, ob und wie man ggf. agieren oder reagieren würde. Auf US‐Seite wurde größere Glaubwürdigkeit von "extended deterrence" dadurch erreicht, dass mit der nuklearen Teilhabe einerseits Nuklearwaffen direkt in europäischen Partnerländern disloziert wurden, gleichzeitig aber auch eine Risikoteilung erreicht wurde.
ABSCHRECKUNG IST NUR GLAUBWÜRDIG, WENN DER ROTE KNOPF IN DEN HÄNDEN EINER PERSON BLEIBT.
Von Skeptikern wird gern darauf hingewiesen, dass Frankreich eigentlich nur über strategische Nuklearwaffen verfüge, die abschrecken sollen von einem Angriff auf das französische Territorium. Deshalb sei eine französische "extended deterrence" dann nicht glaubwürdig, wenn Paris damit zum Beispiel eine russische Invasion Estlands verhindern wolle. Frankreich wolle doch wohl nicht ("mourir pour Danzig") Tallinn verteidigen mit dem Risiko der Zerstörung von Paris.
Frankreich verfügt neben den vier U‐Booten mit Interkontinentalraketen auch über luftgestützte nuklearfähige Marschflugkörper, die von Rafale‐Flugzeugen aus eingesetzt werden. Vielleicht könnten künftig solche Systeme nicht nur wie bisher in Frankreich, sondern zum Beispiel auch in Polen oder Deutschland rotierend oder gar dauerhaft stationiert werden. Man könnte sogar erwägen, dem US‐Modell der nuklearen Teilhabe folgend, dass diese Waffen von geeigneten Partnerflugzeugen aus gestartet werden könnten. Denkverbote sollte es hier nicht geben. Klar ist: Solche Optionen kosten nicht nur sehr viel Geld, das von Frankreichs Partnern aufzubringen wäre, sondern sind auch nicht auf Knopfdruck zu haben. Hier wäre mit jahrelangem Vorlauf zu rechnen.
Im Übrigen muss angesichts technologischer Fortschritte und Zielgenauigkeit nicht jede nukleare Eskalationsdrohung aus Moskau gleich nuklear beantwortet werden. Im Falle eines russischen nuklearen Einsatzes etwa in der Ukraine könnte künftig statt nuklear auch mit massivem Einsatz präziser Marschflugkörper oder künftiger Hyperschallwaffen reagiert werden.
4. Die Zukunftsaufgabe
Hier wird der strategische Auftrag für Deutschland, Frankreich und die europäischen Partner sichtbar: Nutzung eines auszubauenden französischen Nukleardispositivs, hoffentlich im engsten Zusammenwirken mit London, zur Abschreckung eines nuklearen Angriffs auf unsere Territorien. Gleichzeitig massiver Ausbau sämtlicher Elemente einer glaubwürdigen modernen konventionellen Abschreckung einschließlich KI, Hyperschallentwicklung und Satellitenaufklärung. Das wird teuer, und das wird dauern.
So kann ein Schuh draus werden: Wir liefern mit unseren europäischen Partnern die konventionelle, Frankreich im Zusammenspiel mit Großbritannien die nukleare Komponente eines glaubwürdigen Abschreckungskontinuums, in Ergänzung des hoffentlich weiter bestehenden US‐Schirms. Das sollte seinen Eindruck weder in Washington noch in Moskau verfehlen und könnte zugleich ein zentraler Baustein für den Kern einer Europäischen Verteidigungsunion werden.