

Standard Deviation
Views on Western Double Standards and the Value of International Rules
Vorwürfe, der Westen praktiziere Doppelstandards im Umgang mit der regelbasierten internationalen Ordnung, sind derzeit allgegenwärtig. Westliche Länder, so die Kritik vonseiten der Regierungen vieler Länder aus dem sogenannten Globalen Süden, würden sich zwar offiziell zu internationalen Regeln und Prinzipien bekennen, diese in ihrer Außenpolitik aber nur unzureichend einhalten oder inkonsistent implementieren. Die Kritik an westlichen Doppelstandard ist aber mittlerweile nicht nur lauter vernehmbar. Sie besitzt immer mehr den Charakter einer Stellvertreterdebatte über den universellen Geltun
Unter den Zwängen zunehmenden geopolitischen Wettbewerbs, so die Sorge, die viele Regierungen äußern, neige der Westen dazu, internationale Regeln und Prinzipien immer stärker zu umgehen. Einige der Länder, aus denen diese Kritik zu vernehmen ist, haben die mutmaßlichen Doppelstandards des Westens in der Vergangenheit besonders deutlich gespürt. Die Erfahrung einer „Impfstoff-Apartheid“ ist da nur eines vieler Beispiele. Aber nicht allen, die aktuell westliche Doppelstandards anprangern, geht es darum, den Westen zu größerer Regelkonformität zu drängen und internationale Standards zu stärken. Manche nutzen die Vorwürfe, um ihren eigenen Revisionismus an bestehenden Regeln zu relativieren oder eine transaktionale Politik zu rechtfertigen, in der allgemeine Prinzipien keine wesentliche Rolle mehr spielen. Westliche Regierungen stehen deshalb vor einem Dilemma, das im Zuge zunehmender geopolitischer Rivalitäten noch größer werden dürfte. Den Vorwurf der Doppelstandards zu ignorieren, würde den Zynismus weiter verstärken, der internationalen Standards und der regelbasierten Ordnung als solcher vielerorts entgegenschlägt. Gleichzeitig, so fürchten einige westliche Regierungen, spielt ein selbstkritischer Umgang mit den eigenen Inkonsistenzen den Gegnern internationaler Regeln in die Hände.
Ein geeigneter Umgang mit diesem Dilemma verlangt nicht nur eine genauere Beschäftigung mit den Vorwürfen anderer Regierungen. Die USA und Europa müssen zudem besser verstehen, wie sich die staatliche Debatte über Doppelstandards und die ihr immanenten Spannungen in den Ansichten der Weltöffentlichkeit spiegelt. Eine für die Münchner Sicherheitskonferenz durchgeführte Umfrage in neun fast ausschließlich bevölkerungsreichen Ländern des Globalen Südens liefert hierzu erste Erkenntnisse. Sie verweisen auf drei notwendige Schritte. Bei der Reduktion ihrer Inkonsistenzen sollten die USA und europäische Staaten, erstens, den Fokus auf jene ihrer Politiken legen, die dem legitimen Wunsch vieler Länder der Welt nach größerer Gerechtigkeit und Inklusion widersprechen. Zweitens sollten sie dann, wenn Inkonsistenzen nicht vermeidbar sind, ehrlicher damit umgehen. Dazu gehört auch die Abkehr von einer binären Sprache – von Demokratien, die internationale Regeln verteidigen und Autokratien, die diese unterminieren –, die den Erfahrungen vieler Länder der Welt schlicht nicht entspricht. Drittens zeigen die Umfragedaten aber auch, dass westliche Staaten selbstbewusst dem Eindruck entgegenhalten sollten, den viele Doppelstandards-Kritiker gerne erwecken: dass eine von Doppelstandards geprägte Ordnung sich von einer Ordnung nicht unterscheidet, die gar keine Standards mehr kennt.
Der Munich Security Brief wurde mit Mitteln der Otto Wolff Stiftung gefördert. Die Münchner Sicherheitskonferenz bedankt sich für die großzügige Unterstützung.
Über Munich Security Briefs
Mit den Munich Security Briefs möchte die MSC einen Beitrag zu aktuellen Debatten über ein bestimmtes Thema im breiten Spektrum der internationalen Sicherheit leisten. Die Briefs liefern einen Überblick über aktuelle sicherheitspolitische Herausforderungen, Entwicklungen oder Debatten und analysieren deren politische Bedeutung und strategische Implikationen. Die Briefs geben in der Regel die Auffassung ihrer Autor:innen wieder, nicht notwendigerweise die der Münchner Sicherheitskonferenz.